Kennung: 1111

Berlin, 8. Oktober 1905 (Sonntag), Brief

Autor*in

  • Weinhöppel, Hans Richard

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Berlin, 8. Oktober 1905
W 15, Nachodstr. 24/III
Gartenhs.


Lieber Frank,

Du wirst Dir vielleicht schon Gedanken gemacht haben, warum ich mich so selten sehen lasseWedekind hielt sich seit dem 8.9.1905 in Berlin auf, wo er in den kommenden Wochen mit den Proben zu seinem Stück „Hidalla“ (1904) am Kleinen Theater beschäftigt war. Nachdem er gleich unmittelbar nach seiner Ankunft mit Weinhöppel zusammengetroffen war – „Gehe in Kleine Theater, treffe Weinhöppel [...]“ [Tb 8.9.1905] – verzeichnet Wedekinds Tagebuch bis Anfang Oktober nur zwei weitere Begegnungen, für den 18.9.1905 und den 4.10.1905. . Ich spinne mich ein, weil es mir finanziell so schlecht geht, daß ich auch die kleinste Ausgabe vermeiden muss. Die letzten Tage waren besonders schlimm! Die Schulden, die ich während der toten Sommersaisonvgl. Weinhöppels Brief an Wedekind vom 18.6.1905. machen musste, brechen | wie Hochwasser über mich herein. Ich habe bis zum letzten Moment gewartet, an Dich zu schreiben und Dir meine Not zu klagen, da es schliesslich doch aussehen könnte, als hätte ich mein Benehmen Dir gegenüberZu den vorhergehenden Spannungen zwischen Weinhöppel und Wedekind, unter deren Eindruck der persönliche Kontakt zeitweise abbrach, vgl. Wedekinds Brief an Weinhöppel vom 8.3.1905 und Weinhöppels Antwortbrief vom 15.3.1905. nicht aus Überzeugung, sondern in dem Bewußtsein geändert, daß bei Dir „was zu holen“ sei. Ich gebe mich, was Deine momentane Situation betrifft, keinen allzu großen Illusionen hin. Ich betrachte Dich nicht | als den Hans im Glück, der das große Loos gewonnen hat, und der angepumpt werden muß. Sicher ist nur, daß ich Hans im Unglück bin, und Hilfe brauche.

Es sind mindestens 150 Mark nötig, um mich aus meiner peinlichen Lage zu befreien. Erlaube mir, Dir eine kleine Idee von meinen Ausgaben und Einkünften zu machen. Von Frl F. habe ich monatlich etwa 100 Mark zu erhalten, aber bereits 2 Monate voraus erhalten. | Im Theater verdiene ich nichtsWeinhöppel war von Victor Barnowsky als Kapellmeister an das Kleine Theater verpflichtet worden, dessen Direktion zum 1.9.1905 von Max Reinhardt an Barnowsky übergangen war [vgl. Neuer Theater-Almanach, Jg. 17 (1906), S. 277]. Über die Bedingungen des Engagements, das Weinhöppel spätestens im Frühjahr 1906, als er als Lehrer an das Kölner Konservatorium ging, wieder löste, konnte nichts ermittelt werden., da immer „Hidalla“ gespielt wirdWedekinds „Hidalla“ hatte am 29.9.1905 im Kleinen Theater Premiere. Die Inszenierung (Regie: Victor Barnowsky), in der Wedekind die Rolle des Karl Hetmann spielte, wurde ein großer Erfolg. Am Abend des 8.10.1905 wurde die 12. Vorstellung gespielt.. (!) Im ConservatoriumWeinhöppel unterrichtete in Berlin auf freiberuflicher Basis am Stern’schen Konservatorium, einer angesehenen privaten Musikschule unter Leitung von Gustav Hollaender [vgl. den Hinweis auf Weinhöppels Tätigkeit in Musikalisches Wochenblatt, Jg. 37, Nr. 9, 1.3.1906, S. 85]. habe ich bis heute 2 Stunden, á 3 Mark gegeben, habe also Ende dieses Monats nur 24 Mark zu erwarten. Was man in Berlin zum Leben braucht, weißt Du. Ich aber habe sonst keine Einkünfte, da mein anderer Zahlschüler Dr H. selbst „dans la prerée(frz.) in der Prärie, hier im Sinne von: auf dem Trockenen.“ ist, u. jene andere Dame sich entschlossen hat, meine nolens volens(lat.) wohl oder übel. vorgeschlagene Honorarermäßigung anzunehmen.

Es geht mir also schlecht, – daran ist nicht | zu zweifeln. Und wenn Du mir gerne hilfst, und helfen kannst, so thu’ es, bitte. Betrachte mich als Sparkasse. Die Summe, die Du bei mir einbezahlst, wirst Du später, wenn Du sie benötigst, ohne Widerspruch erheben können. Ehrenschulden habe ich stets ohne Gerichtsvollzieher bezahlt, und ich weiß, daß Dein Geld redlich und nicht allzuleicht verdient ist. Ich fühle mich auch berechtigt, Schulden zu machen, da ich mit Bestimmtheit darauf rechnen | kann, hier in Berlin Carrière zu machen. Du selbst wirst kaum daran zweifeln. Ich aber zweifle nur daran, ob es mir gelingt, mich diese kommenden Wochen mit ihren Sturmangriffen auf mein geknicktes Portemonneie zu behaupten.

Ich setze nur noch die Versicherung bei, daß eine Ablehnung meiner Bitte für Dich weitere Folgen (sic!) nicht haben wird, als daß ich nicht so bald mich werde sehen laßen. Du aber | wirst meine kostbare Freundschaft nicht verlieren; sondern verstehen, daß 1.) ein Hungernder keine Lust zum Trinken hat, 2.) Tram- und Stadtbahnen eminent kostspielig sind, 3.) chronischer Δάλληςaltgriechische Transliteration für neuhochdeutsch ‚Dalles‘ = Not, Geldverlegenheit. Das Wort ist entlehnt aus westjiddisch ‚dalles‘ (Armut) und ging im 18. Jahrhundert in die deutsche Umgangssprache über [vgl. Kluge-Seebold 1989, S. 126]. Die fehlerhafte und sprachhistorisch sinnfreie Transliteration ins Griechische hat vermutlich nur die Funktion einer Emphase. den Humor beeinträchtigt, 4.) etc. etc.

Ich grüße Dich herzlich und bleibe wie immer
Dein
getreuer
Hans Richard


Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 7 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Liniertes Papier. 2 Doppelblätter. Seitenmaß 11 x 18 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Berlin
    8. Oktober 1905 (Sonntag)
    Sicher

  • Absendeort

    Berlin
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Berlin
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 180
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Hans Richard Weinhöppel an Frank Wedekind, 8.10.1905. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Mirko Nottscheid

Zuletzt aktualisiert

13.04.2020 14:25