Kennung: 1098

Leipzig, 27. Juli 1899 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Weinhöppel, Hans Richard

Inhalt

Leipzig, 27.VII.1899.


UntersuchungshaftWedekind hatte sich am Abend des 2.6.1899 in Leipzig den Behörden gestellt. Das „Leipziger Tageblatt“ [Jg. 93, Nr. 277, 3.6.1899, Morgen-Ausgabe, 1. Beilage, S. 4365] berichtete am folgenden Tag: „Der s.[einer] Z.[eit] in die ‚Simplicissimus‘-Affäre verwickelte, wegen Majestätsbeleidigung verfolgte und flüchtig gewordene Franklin Wedekind hat sich heute Abend, direct aus Paris kommend, der hiesigen Polizeibehörde freiwillig gestellt.“ Die Untersuchungshaft verbrachte Wedekind in der Gefangenen-Anstalt in Leipzig.


Lieber Richard,

mit dem besten Willen konnte ich Dir auf Deine erregten ZeilenWeinhöppels Brief an Wedekind vom 20.7.1899, auf dessen „Flüchtigkeit“ infolge Erregung Weinhöppel in der Nachschrift selbst hingewiesen hatte. nicht früher antworten. Allerdings hätte ich Dir früher einmal schreiben sollen, aber ich hoffte ja immer nur auf die EntscheidungDie Entscheidung in Wedekinds Strafverfahren fiel acht Tage später: Am Donnerstag, den 3.8.1899 verurteilte ihn die Strafkammer des Königlichen Landgerichts in Leipzig unter dem Vorsitz von Landgerichtsrat Eduard Alfred Adam wegen Majestätsbeleidigung in den Gedichten „Im heiligen Land“ und „Meerfahrt“ zu einer Gefängnisstrafe von sieben Monaten, von der ein Monat Untersuchungshaft abgezogen wurde. Am 23.8.1899 wurde diese Strafe in Festungshaft umgewandelt, die Wedekind am 21.9.1899 auf der Festung Köngstein antrat., die ich viel näher glaubte.

Zur Hauptsache: Zu Deiner Erregung hast Du nicht die geringste Ursache. Ich halte mich an Thatsachen:

Der Tag beginnt um 6 Uhr Morgens. Um 8 Uhr Kaffee | mit Semmel! 10–11 Aufenthalt im Freien. Um 12 Uhr ein gut bürgerliches Mittagsmahl aus dem nächsten Restaurant. Darauf eine delikate Habanakubanische Zigarre.! Um 7 Uhr Abendessen. Um 9 Uhr Schlafengehen. Mittags und Abends je eine Halbe MünchnerEin halber Maßkrug Münchner Bier. Eine Maß entsprach damals 1,069 Liter.. Dabei „Leipziger Tageblatt“, die Erlaubnis, für mich zu schreiben, was mir einfällt und eine Menge Lectüre. Du siehst, es geht mir durchaus nicht schlecht; ich schrieb nur noch nicht, weil ich von Tag zu Tag die Verhandlung erwartete. Nun mußte aber mein VertheidigerWedekind wurde bei seinem Prozess von dem Leipziger Strafverteidiger Kurt Hezel vertreten. nothwendig die Festspiele in BayreuthDie Bayreuther Festspiele zum Werk des Komponisten Richard Wagner, die 1898 nicht stattgefunden hatten, wurden am 22.7.1899 eröffnet. besuchen und reichte eine Eingabe um Verschiebung der Verhandlung ein. Die Verhandlung findet heute in acht Tagen, nächsten Donnerstag, statt. Denk ein klein wenig an mich; das wird mir Glück bringen.

Ich freue mich ungemein über Deine UnternehmungenVon Weinhöppels „Opern Unternehmen“, zu denen nichts Näheres ermittelt werden konnte, ist auch in Wedekinds Brief an Weinhöppel vom 22.5.1899 die Rede. . Ich kenne keine der Opern, sehe aber aus allem, daß du in vollem Zug bist. Glück auf! Ich habe von hier aus nur mit Dr. Heine correspondirtVon Wedekinds Korrespondenz mit Carl Heine aus der Zeit der Leipziger Untersuchungshaft ist lediglich Heines Brief vom 26.6.1899 überliefert. Parallel dazu korrespondierte Wedekind auch mit Heines Frau Beate., der eventuell auch nach Münchennicht ermittelt. Heine hatte den Plan entweder in seiner nicht überlieferten Korrespondenz an Wedekind oder während seines weiter unten erwähnten Besuchs bei Wedekind in der Leipziger Gefangenen-Anstalt erwähnt. kommt, das könnte für uns alle drei von großem Vortheil sein. Es ist, mag kommen was wolle, entschieden besser so, als wenn wir uns in Paris wiedergesehen hätten diesen Sommer. Ich war in Paris ein verhetzter, ungenießbarer Mensch. Es ist mir faktisch hier im Gefängnis noch nicht so trostlos zu Muthe gewesen wie während der Zeit in Zürich und Paris. Außerdem ist Paris jetzt häßlich. Nach der AusstellungGemeint ist die Pariser Weltausstellung (Exposition Universelle, 14.4.-12.11.1900), deren Vorbereitungen das Stadtbild während Wedekinds Aufenthalt in Paris bereits stark geprägt hatten [vgl. Wedekinds Brief an Beate Heine vom 25.6.1899]. wird es wieder so sein wie wir es vor 10 Jahren gekannt.

Es geht mir also wie gesagt  sehr  erträglich. Es wäre undankbar, wenn ich das nicht anerkennen wollte. Ich habe nur meine Correspondenz mit dem Simplicissimusnicht überliefert. so eingerichtet, daß man dort überhaupt nichts | über mich zu sagen weiß, sonst geht die RenomistereiSchreibversehen, statt: Renommisterei = Schaumschlägerei, Maulheldentum. Von Gerüchten („Klatschereien“), die aus der Redaktion des „Simplicissimus“ über ihn verbreitet worden seien, ist auch in Wedekinds Brief an Weinhöppel vom 2.11.1899 die Rede. wieder los. Ich wälze gegenwärtig einige ernste größere Charakterschilderungen zu Rezitationszweckennicht ermittelt. Wedekind war zuletzt im Sommer 1895 in Zürich mit Rezitationen aus Henrik Ibsens Stücken unter dem Pseudonym Cornelius Mine-Haha aufgetreten. Der Plan wurde offenbar schnell verworfen. im Kopf herum, damit ich etwas zum Wiederanfangen habe, wenn ich herauskomme. Es ist mir bis jetzt aber noch nichts geglückt.

Grüße Max Halbe herzlich, ebenso Lotte, wenn Du so mit ihr stehst, wie ich aus eurer lieben Rathskellerkartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Weinhöppel, Anton Dreßler, Lotte Dreßler, Max Halbe, Georg Schaumberg und Julius Schaumberger an Wedekind, 1.1.1899. Die Unterzeichner der Neujahrskarte lassen sich aus Wedekinds Brief an Weinhöppel vom 10.1.1899 erschließen. zu meiner Freude entnehmen zu dürfen glaube. Dann auch Anton und Schaumberger.

Seit ich hier bin hatte ich nur einmal BesuchZu dem Besuch Carl Heines in der Gefangenen-Anstalt in Leipzig, kurz nachdem Wedekind sich am 2.6.1899 den Behörden gestellt hatte, konnte nichts Näheres ermittelt werden. und zwar von Dr. Heine, der mich gleich in den ersten Tagen auf der Durchreise besuchte. Sonst herrscht natürlich etwas Eintönigkeit, aber es muß nun einmal überstanden werden. Gräme Dich nur nicht um mich, Du hast keine Ursache, dagegen danke ich Dir herzlich für Deine lieben Zeilen. Wenn Du nach der Entscheidung keine Nachricht von mir erhältst, dann schreibe mir bitte wieder gelegentlich.

Mit den besten Grüßen und Wünschen in alter Treue Dein

Frank.


Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck überliefert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Leipzig
    27. Juli 1899 (Donnerstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Leipzig
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Zweiter Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
3-5
Briefnummer:
156
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort..

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 27.7.1899. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Mirko Nottscheid

Zuletzt aktualisiert

07.03.2024 10:47