Kennung: 1097

München, 20. Juli 1899 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Weinhöppel, Hans Richard

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

München den 20. Juli 1899


Mein lieber alter Frank!

Endlich, endlich komme ich dazu, Dir ein Lebenszeichen zu geben, – das erste seit meiner Rückkehr von Italienvgl. Wedekinds Brief an Weinhöppel vom 22.5.1899.. Ich habe jeden Tag an Dich gedacht und wurde sogar einmal gewaltsam an Dich erinnert, u. zwar durch das Erscheinen eines PolizeicommissärsDas geschilderte Verhör stand im Zusammenhang mit Wedekinds Strafverfolgung in der „Simplicissimus“-Affäre. Seit dem 2.6.1899 saß er in Leipzig in Untersuchungshaft und erwartete die Eröffnung seines Verfahrens wegen Majestätsbeleidigung [vgl. Wedekinds Brief an Weinhöppel vom 27.7.1899]. , der mich einem Verhör unterstellte. Er wollte einige Details über das Schicksal Deiner Koffervgl. Wedekinds Brief an Weinhöppel vom 22.5.1899. erfahren, und | ich sagte ihm wahrheitsgetreu, daß ein Koffer und eine Kiste einige Zeit in meinem Zimmer uneröffnet lagerten, bis sie in demselben Zustande von einem ExpreßcompagniemannUnter dem gemeinsamen Namen Express Compagnie firmierten die regional niedergelassenen Mitglieder des gleichnamigen, 1864 in Dresden gegründeten Verbands der Dienstmann- und Packträger-Institute. (oder ähnliches Institut) abgeholt wurden (er brachte einen Zettel von Frida, in dem S/s/ie mich bat, dem Überbringer sofort besagte Effekten zu überlassen) – und daß sie dann durch Frida oder Deinen Bruder zu Dir in die Schweiz geschickt wurden.

Ich wurde ferner einiges über Deine Persönlichkeit gefragt | und erklärte mich bereit, eidlich zu erhärten, daß ich Dich weder für einen Sozialisten, Nihilisten, Anarchisten, noch auch für einen persönlichen Feind oder Wiedersacher des deutschen Kaisers halte. (Und ich glaube es giebt niemand auf dieser Welt, der das von Dir behaupten könne).

Ich behauptete ferner, daß alles, was Du geschrieben in politischer HinsichtGegenstand des Verfahrens gegen Wedekind bildeten die satirischen Gedichte „Im heiligen Land“ und „Meerfahrt“ auf die Palästinareise Kaiser Wilhelms II., die er unter Pseudonym im „Simplicissimus“ veröffentlicht hatte., „der Noth gehorchend, nicht dem eigenen Triebe“ entstanden sei. –

Ich habe versucht, mich über die Art und Weise zu infor|mieren, wie Du als Untersuchungsgefangener behandelt wirst, und nicht gerade das Erfreulichste gehört.

Dies thut mir in der Seele, und wenn es Dir ein kleiner Trost ist, sage ich Dir, daß ich mit Dir leide.

Du hast im Leben schlimmes genug ertragen, möge dies Jahrhundert all das verschlingen und eine neue, wirklich eine neue Zeit für uns beide heranbrechen.

Schön ist’s, als Märtyrer zu leiden, zu sterben, vielleicht, aber gräßlich muß es sein, für etwas | zu büßen, was man nicht mit seinem ganzen Wollen, mit seiner ganzen Überzeugung ausgesprochen hat. –

Wahrlich, manchmal überkommts mich, als müßt ich für einen guten Ausgang zu Gott beten, – verzeih’ die Sentimentalität, aber Du weißt wie sehr uns unser Leben, und unser Künstlertum genähret und versumpft hat. –

Bitter laß mich umgehend hören wie Dirs geht. Du darfst mir doch schreiben? | Oder sollten Dir diese Zeilen vorenthalten sein? Laß mich wenigstens durch ein paar Zeilen wissen, ob Du diesen Brief erhalten hast. Das darfst Du doch? –

– Ich habe momentan viel zu thun, bin den ganzen Tag beschäftigt, und versuche in dieser Fluth für die Ebbe vergangener Tage einzuholen.

Zum componieren komme ich fast | gar nicht.

Bitte schreib mir auch, ob ich irgend etwas für Dich thun kann. Brauchst Du Lectüre, Geld – alles was ich für Dich thun kann: mit vollem Herzen.

Max Halbe lebt mit Familie am StarnbergerseeMax Halbe und seine Familie verbrachten den Sommer 1899 in der Villa Tanera, dem Landhaus des prominenten Reiseschriftstellers Karl Tanera in Bernried bei Starnberg. Halbe vollendete hier sein Drama „Das Tausenjährige Reich“ (1900) [vgl. Halbe 1935, S. 267-269]. (Bernried) – Die Andern sehe ich äußerst selten. – München gleicht zur Zeit litterarisch und musikalisch einem großen Saal nach einer Redouteveraltet für Tanzveranstaltung, Ballsaal., ein ödes trauriges Bild. | Was wir nicht in uns selbst finden: außerhalb dürft’ es doppelt schwer fallen.

Lebewohl mein Freund. Es drückt Dir herzlich die Hand

Dein
getreuer
Richard


P. S. Verzeih’ die Flüchtigkeit meiner Zeilen, ich bin überreizt und müde zugleich.

R.


Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 8 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 2 Doppelblätter. Seitenmaß 11,5 x 18,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    20. Juli 1899 (Donnerstag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Leipzig
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 180
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Hans Richard Weinhöppel an Frank Wedekind, 20.7.1899. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Mirko Nottscheid

Zuletzt aktualisiert

12.04.2020 14:36