Kennung: 1096

Paris, 22. Mai 1899 (Montag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Weinhöppel, Hans Richard

Inhalt

Paris, 22.V.1899.


Lieber Richard,

Deine Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondezstück: Weinhöppel an Wedekind, 21.5.1899. Weinhöppel hatte Wedekind, wie aus dem vorliegenden Brief hervorgeht, von einem Ort am Gardasee geschrieben, vermutlich aus Cisano. haben mich unendlich erfreut, mehr als ich im stande bin, Dich mit Nachrichten zu beglücken. Sei aber überzeugt, daß ich mit voller Seele an Deinem Glück theilnehme und froh hin, daß Du in einer Deiner würdigen Umgebung Thätigkeit und Interesse gefunden, die Deiner würdig sind. Wie wenig hätte gefehlt und auch ich wäre letzten Herbst nach Italien gereist statt in dieses Babylon, von dessen Babylonischen Reizen ich diesmal wenig, sehr wenig genossen.

Ich will vor allem Deine geschäftlichen Fragen beantworten. Frida ist hier. Ich fragte sie nach der englischen Opernicht ermittelt., und sie sagt, Du habest ihr den Text öfter geben wollen, sie habe ihn aber nie erhalten. Deine Erzählungennicht ermittelt. Es dürfte sich um die „kleinen novellisierten Skizzen“ handeln, die Weinhöppel in seinem Brief an Wedekind vom 15.3.1905 in den Händen von Frida Strindberg wähnt. solle Donald unter seinen Sachen haben. Donald, der nämlich auch hier ist, will sie heraussuchen und sie, wenn er sie hat, Dir zuschicken. Du | fragst auch mich nach der englischen Oper, aber ich habe sie thatsächlich nie in Händen gehabt. Es thut mir sehr leid daß ich Dir keine besseren Nachrichten geben kann.

Was mich betrifft, so habe ich – traurig aber wahr, bis jetzt an meinem Stück geschrieben. Ich mußte die Arbeit vielfach unterbrechen und das Wetter war so schlecht als möglich. Unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit: In acht TagenWedekind verließ Paris Ende des Monats und reiste über Köln nach Leipzig. Dort stellte er sich am Abend des 2.6.1899 den Behörden, die für die Verfolgung der Majestätsbeleidigung in der „Simplicissimus“-Affäre zuständig waren, und wurde in Untersuchungshaft genommen [vgl. Wedekinds Brief an Weinhöppel vom 27.7.1899]. denke ich in Leipzig hinter Schloß und Riegel zu sitzen. Das ist der Grund, weshalb ich Dich nicht auffordern kann, nach Paris zu kommen. Ich kann mit der Ausführung meines Entschlusses unmöglich länger warten, da mir die Gerichtsferien in die Quere kommen. Aber sprich bitte nicht darüber, bevor ich den Entschluß thatsächlich ausgeführt habe.

Ich würde Dich um die Bekanntschaft der DameÜber die Identität der „Schloßherrin auf Castello Cizano“ – wie sie weiter unten genannt wird –, teilt der Herausgeber des Erstdrucks lediglich mit: „Dort war Weinhöppel bei einer Amerikanerin zu Gaste.“ [GB 1, S. 357, Anm. 210]., von der Du mir mit so großer Verehrung schreibst, beneiden, wenn ich nicht die Hoffnung hegte, daß mir auch noch einmal das Vergnügen zutheil wird, sie kennen zu lernen. Aber ich freue mich wie gesagt ungemein, daß Du auf dem Schloß am GardaseeDas unten auch namentlich erwähnte „Castello Cinzano“ ist nicht eindeutig zu ermitteln. „Cinzano“ könnte die kleine Ortschaft Cisano am östlichen Ufer des Gardasees meinen. Ein Schloss oder Kastell gibt es dort aber nicht. Gemeint ist vielleicht das Castello Scaligero, eine Burg aus dem 9. bis 14. Jahrhundert im benachbarten Lazise, etwa drei Kilometer von Cisano entfernt. Über die damaligen Besitzverhältnisse konnte nichts ermittelt werden. eine so anbetungswürdige gastfreundliche Freundin gefunden. Ebenso freue ich mich über das Opern UnternehmenGemeint ist vermutlich die bereits oben erwähnte „englische Oper“.. Wenn wir uns wiedersehen, sind wir vielleicht beide gemachte Männer. Dir wünsche ich es von ganzem Herzen und ich vertraue meinerseits auf mein neues Stück. Schade daß ich nun zuvor noch Buße thun muß, aber der Aufenthalt im Gefängnis wird im Sommer angenehmer sein als im Winter.

Donald und Frida, die hier gar nichts zu suchen haben und noch viel weniger zu hoffen, habe ich unter mütterliche Obhut nach ZürichGemeint ist offenbar: unter die Obhut von Wedekinds Mutter Emilie Wedekind-Kammerer, die allerdings in Lenzburg/Kanton Aargau lebte. dirigirt. Ich hoffe, | daß sich die Sache macht und sie dort abwarten können bis ich wieder frei bin. Ich würde mich sehr freuen, wenn Du mit Donald in Zürich zusammenträfst. Seine Adresse erfährst Du dort sicher auf der Redaction der ,,Züricher Post“Donald Wedekind war freier Mitarbeiter der Tageszeitung „Zürcher Post“, in der Feuilletons und Reiseskizzen von ihm erschienen. . Du schreibst ja, daß Du eventuell durch die Schweiz zurückradelst.

Ich habe nun auch eine Bitte an Dich, die vielleicht ebenso erfolglos ist, wie Deine eigene. Hast Du Briefe von mir in VerwahrungDies war offenbar nicht (mehr) der Fall. Vgl. zum Folgenden Weinhöppels Brief an Wedekind vom 20.7.1899.? In meiner Correspondenz fehlen mir sämtliche Briefe an LangenGemeint sind Abschriften oder Entwürfe der Briefe Wedekinds an Albert Langen und seinen Verlag. Aus der vor 1900 geführten Korrespondenz zwischen Wedekind und Langen sind nur wenige Stücke überliefert. . Es ist möglich, daß man sie in Lindau auf dem Zollamtbeim Übergang der Frachtstücke in die Schweiz. konfiscirt hat, denn meine beiden Koffer kamen erbrochen in Zürich an. In diesem Falle brauchte ich Dich um nichts zu bitten. Andernfalls, wenn Du Correspondenz von mir in München hast, dann würde ich Dich bitten, mir  alles,ohne Ausnahme, nach Leipzig zu schicken, da in meiner Correspondenz meine hauptsächliche Verteidigung bestehen würde. Ich würde Dir von Leipzig aus schreiben.

Ich kann leider mit dem besten Willen nicht so jubeln wie Du. Ich bin geradezu müde von der mehr-monatlichen Arbeit, so daß mir jetzt das Denken unendlich schwer wird. Aber ich beneide Dich wie gesagt nicht, sondern freue mich mit Dir. Wenn Du mir einen Gefallen thun willst, so bitte ich Dich, mich der Schloßherrin auf Castello Cizano ehrerbietigst zu empfehlen.

Ich gehe aus einer wenig erfreulichen Gegenwart einer noch düstereren Zukunft entgegen, aber die Seele muß bekanntlich geläutert werden, bis sie für die himmlische Glückseligkeit rein genug ist. Den Glauben an die Glückseligkeit habe ich bei alledem noch nicht verloren. Ich habe, seit ich hier bin, noch kein Theater | und kein Tingeltangel gesehen; ich habe kein Interesse dafür. Ich habe Deutschland beinah lieben gelernt und hoffe, daß ich trotz Paris einen vertrauenerweckenden Eindruck in Leipzig machen werde. Ueber die Münchner Ereignisse bin ich durch die Zeitungen unterrichtet, sonst weiß ich nichts von der Welt.

Diese Zeilen sind thatsächlich, wie Du siehst, beinahe zur JeremiadeKlagelied. geworden, aber deshalb habe ich auch Deinen letzten Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Weinhöppel an Wedekind, 25.2.1899. nicht beantwortet, weil mir das Jammern verhaßt ist wie der Tod. Sobald ich abgeurtheilt bin, falle die Strafe auch noch so grausam aus, werde ich ein glücklicherer Mensch sein.

Mit den herzlichsten Grüßen und auf baldiges Wiedersehen in Deutschland Dein alter treuer
Frank.


Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck überliefert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Paris
    22. Mai 1899 (Montag)
    Sicher

  • Absendeort

    Paris
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Cisano
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
339-342
Briefnummer:
153
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort..

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 22.5.1899. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Mirko Nottscheid

Zuletzt aktualisiert

07.03.2024 10:49