Kennung: 1087

Rom, 31. Dezember 1898 (Samstag), Brief

Autor*in

  • Langen, Albert

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Schreiben Sie mir nicht unter meinem Namen, sondern adressieren Sie Ihre Briefe an Frau Dr IbsenAlbert Langes Schwägerin Bergliot Ibsen (geb. Bjørnson), die seit dem 11.10.1892 mit dem Politiker Dr. Sigurd Ibsen, dem Sohn Henrik Ibsens, verheiratet war.
Rom
31.XII.98

68, Capo le Case

Lieber Herr Wedekind
Meine Frau und ich danken Ihnen herzlich für Ihre Neujahrswünschenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Albert Langen und Dagny Bjørnson, 29.12.1898. und erwidern sie bestens.
Ich bin sehr froh für Sie, daß Sie wieder in ParisWedekind war am 22.12.1898 von Zürich nach Paris gereist, wo er bereits in den Jahren von 1891 bis 1894 längere Zeit gelebt hatte. sind. Das ist doch die beste Compensation für alle erlittene UnbillAuf Anordnung des Leipziger Landgerichts vom 24.10.1898 wurde die Ausgabe des „Simplicissimus“ für den 25.10.1898 noch am selben Tag am Druckort in Leipzig beschlagnahmt. Gegen Albert Langen, Thomas Theodor Heine und „Hieronymos“ alias Wedekind ergingen Haftbefehle wegen Majestätsbeleidigung. Wedekind floh am 30.10.1898 nach Zürich und später nach Paris. Der Prozess wurde am 19.12.1898 in Leipzig eröffnet [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 51, Nr. 585, 20.12.1898, Vorabendblatt, S. 2]. Wedekind stellte sich schließlich am 3.6.1899 der Polizei. Am 3.8.1899 wurde er zu sieben Monaten Gefängnis verurteilt; die Strafe wurde Anfang September in Festungshaft umgewandelt, die Wedekind vom 21.9.1899 bis 3.2.1900 auf der Festung Königstein verbüßte.. Ich kann grade nicht sagen, daß ich mich hier in RomAuch Albert Langen entzog sich der Verhaftung und floh zunächst Anfang November 1898 nach Zürich, dann Endes des Jahres nach Rom und 1899 schließlich nach Paris. wohl fühle. Diese Stadt, dieses Land überhaupt ist nur für sorgenfreie Menschen da. In ZürichWedekind traf am 2.11.1898 (Mittwoch) in Zürich den ebenfalls geflohenen Verleger Albert Langen, der am 1.11.1898 (Dienstag) noch in St. Gallen war. Seiner Frau Dagny Björnson schrieb Langen Anfang November 1898 über die Situation in Zürich: „Wedekind und ich sind natürlich beide hier signalisiert und ‚beobachtet‘. Nun, sie werden sich wohl bald davon überzeugen, daß wir keine Bomben fabrizieren.“ [Abret/Keel 1987, S. 194f.] hatte ich doch noch einigen Contakt mit MünchenDer Verlagssitz des Albert Langen Verlags war und blieb in München. + dem Bureau. Hier ist man am Ende der Welt. – Die erste | Nachricht, die ich hier bekam, war daß nach §§ ? des R.G.B.Die rechtlichen Bestimmungen für eine „Beleidigung des Landesherrn“ (§§ 94-97) und eine „Beleidigung von Bundesfürsten“ (§§ 98-101) des Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871 (RStGB) sahen keine Vermögensstrafen vor. Diese waren nur für „Hochverrat und Landesverrat“ (§§ 80-93) sowie für „Verbrechen oder Vergehen gegen die öffentliche Ordnung“ (§§ 123-145) vorgesehen. mein Eigentum in Deutschland von Staatswegen eingezogen werden konntevermutlich Schreibversehen, statt: könnte.. Glücklicherweise kamen die Weihnachtstage dazwischen, und ich bekam Zeit mit Hilfe meines Bruders und des liebenswürdigen deutschen ConsulsAnton von Saurma-Jeltsch war von 1897 bis 1899 deutscher Botschafter am italienischen Hof in Rom. hier meine gesamten Verlagsgeschäfte in eine CommanditgesellschaftBesitzer des Albert Langen Verlags in München war seit dem 29.12.1898 „Dr. Martin Langen in Berlin“ [Offizielles Adressbuch des Deutschen Buchhandels und der verwandten Geschäftszweige 1900, Teil I, S. 332], Albert Langes Bruder; als Prokurist ist Korfiz Holm genannt. Inwiefern der Verlag in diesem Zusammenhang in eine Kommanditgesellschaft umgewandelt wurde, konnte nicht geklärt werden [vgl. Pöllinger 1993, S. 507f.]. Am 25.1.1899 schrieb Langen an seine Frau Dagny Bjørnson: „Du wirst jetzt Verlagsbesitzerin und erteilst mir Prozenta!“ und am 30.1.1899: „Alles ist vorzüglich geordnet. In 4 Wochen, wenn Du fertig bist, wird alles perfekt durch Deine Unterschrift.“ [Abret/Keel 1987, S. 209f.] umzuwandeln, deren Teilhaber meine Frau, ich und mein Bruder sind. Diesmal haben wir der Regierung eine Nase gedreht; aber es scheint, daß ich aus den Aufregungen nie herauskomme. Dazu diese nervöse Stadt (d. h. im Grunde nicht nervös, es ist nur Spektakel & Radau) ich habe Sehnsucht nach einer africanischen Wüste. – |
Der Simplicissimus hat sich von seinem ziemlich starken Zurückgang wieder erholt. Es fehlen nur noch 3000 an seiner alten AuflageDie Auflage des „Simplicissimus“ stieg von 26.000 (April 1898) zunächst auf 67.000 (fünf Wochen nach der Konfiszierung). Im April 1899 betrug die Auflage 55.000, hatte sich also mehr als verdoppelt [vgl. Abret/Keel 1985, S. 28].. Wenn wir diese, bis Heine wieder aus dem Gefängnis zurück ist, auf 60000 halten können, so will ich zufrieden sein. Wenn die Künstler nur begreifen wollten, daß die politische Mission des S. ebensowichtig ist wie die künstlerischen Leistungen. Es ist keine Initiative in Deutschland. Die Zeitungen sind entrüstet über die Scandale in FrankreichAlbert Langen dürfte hier auf die Dreyfus-Affäre anspielen.; bei uns aber ist alles in bester Ordnung. Ist es nicht characteristisch, daß sich noch keine Zeitung, noch keine Künstlergenossenschaft oder sonst eine Anzahl Leute gefunden hat, um gegen Heines Gefäng|nisstrafeAuch gegen Thomas Theodor Heine als Zeichner des „Simplicissimus“ erging nach der Beschlagnahme der Ausgabe vom 25.10.1898 ein Haftbefehl wegen Majestätsbeleidigung. Er wurde am 2.11.1898 verhaftet und am 19.12.1898 zu einer sechsmonatigen Haftstrafe verurteilt, die er nach deren Umwandlung in Festungshaft vom 29.3. bis 29.9.1899 auf der Festung Königstein verbüßte [vgl. KSA 1/II, S. 1710]. zu protestieren? Man beurteilt im Ausland die väterländischen Verhältnisse richtiger, als wenn man zu Hause sitzt. Deutschland braucht ein Oppositionsblatt wie der Simplicissimus ist. Wenn wir jetzt, wo wir dazu noch herausgefordert sind, zurückweichen, anstatt die Antwort zu geben, die man von uns erwartet, dann werden wir von einem andern Blatt oder Factor über den Haufen gerannt. Glauben Sie nicht?
Wie geht es Ihnen? Haben Sie Ihre alten FreundeWedekind traf u. a. Emma Herwegh wieder, die er bereits von seinen ersten Parisaufenthalten kannte [vgl. Emma Herwegh an Wedekind, 7.4.1899, 24.4.1899 und 28.5.1899]. besucht? Haben Sie neue Verbindungen angeknüpft? Wie sind Ihre Aussichten dort? Ich komme ganz bestimmt Ende Febr. oder Anfang März nach ParisAlbert Langen kam bereits Mitte Februar nach Paris [vgl. Wedekinds Brief an Weinhöppel vom 24.2.1899]. Er lebte mit seiner Familie in der Rue de la Pompe 187, bis er im Mai 1903 – nach Zahlung eines Bezeigungsquantums von 20.000 Mark – ohne weitere Strafverfolgungsandrohung aus dem Exil nach München zurückkehren konnte [vgl. KSA 1/II, S. 1710].. Ihre neue Adresse teilen Sie mir bitte mit. Meine Frau u ich grüßen Sie herzlich Ihr
Albert Langen

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Liniertes Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 13,5 x 21 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Die ersten beiden Seiten wurden oben in der Mitte mit Bleistift paginiert. Am Fuß von Seite 2 notierte Wedekind mit Bleistift vier Takte einer textlosen Komposition, die keinem seiner Lieder zugeordnet werden können [vgl. „Komposition 31“, in: KSA 1/IV, S. 1181]. Auf Seite 2 ist ein Textabschnitt (von „Nachricht“ bis „herauskomme“) durch geschweifte Klammern oben und am linken Rand der Seite sowie dem zweimaligen Zusatz „Vertraulich“ mit blauem Buntstift markiert. Ferner finden sich im Brief Unterstreichungen und Anstreichungen am Rand mit braunem Buntstift. Es kann davon ausgegangen werden, dass sie von der Justizbehörde stammen, denen Wedekind das Schreiben Albert Langens zu seiner Entlastung im Rahmen des Simplicissimus-Prozesses vorlegte [vgl. KSA 1/II, S. 1710-1712].

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Rom
    31. Dezember 1898 (Samstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Rom
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Paris
    Datum unbekannt

Erstdruck

Die Majestätsbeleidigungsaffäre des „Simplicissimus“-Verlegers Albert Langen. Briefe und Dokumente zu Exil und Begnadigung 1898-1903

Autor:
Helga Abret, Aldo Keel
Verlag:
Frankfurt am Main, Bern: Lang
Jahrgang:
1985
Seitenangabe:
51-53
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Sächsisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden

Archivstraße 14
01097 Dresden
Deutschland

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
11018 Ministerium der Justiz
Signatur des Dokuments:
Nr. 0751/13, unfol.
Standort:
Sächsisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden (Dresden)

Danksagung

Wir danken dem Hauptstaatsarchiv Dresden für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Albert Langen an Frank Wedekind, 31.12.1898. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Cordula Greinert

Überarbeitet von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

05.03.2024 17:34