München, 7.VIII.1901.
Mein lieber Freund!
Herzlichen Dank für Ihre freundlichen Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Carl Heine an Wedekind, 23.7.1901. zu meinem
GeburtstagWedekinds 37. Geburtstag am 24.7.1901.. Ich finde sie vor bei der Rückkehr von unserer sehr verunglückten
Scharfrichter-Tournéedie erste Tournee des Münchner Kabaretts Die Elf Scharfrichter, deren Ensemblemitglied Wedekind war, vom 19.7.1901 bis 3.8.1901 mit den Spielorten Cannstatt bei Stuttgart, Darmstadt, Kreuznach und Ems.. Empfangen Sie meinen herzlichen aufrichtigen Glückwunsch
zu Ihrem Engagement bei BergerDie Presse meldete über das Engagement Carl Heines zur nächsten Spielzeit am Deutschen Schauspielhaus (Direktion: Alfred von Berger) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1902, S. 373] in Hamburg: „Als Regisseur ist Herr Dr. Carl Heine verpflichtet worden, welcher als Leiter des ‚Ibsen- Ensembles‘ auch in Hamburg rühmlichst bekannt ist.“ [Neue Hamburger Zeitung, Jg. 6, Nr. 323, 13.7.1901, Morgen-Ausgabe, S. (2)]. Ich hoffe und habe die feste Zuversicht, daß
die Stellung Sie in mancher Hinsicht ungleich höher befriedigen wird als das
Arbeiten mit engbegrenzten Mitteln und mit künstlerischen Kräften, die Sie
selber immer erst zu solchen machen mußten. Ich weiß aus einem lieben Brief
Ihrer Frau Gemahlinnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 20.5.1901., wie schwere Zeit Sie diesen Frühling durchgemacht haben,
und freue mich sehr, daß es Ihnen vor Antritt einer neuen Lebensaufgabe
wenigstens vergönnt war, sich einigermaßen zu erholen. So schwere Mühen, wie
Sie während des letzten Jahres tapfer überstanden haben, können Ihnen aus einem
geregelten Wirkungskreis an ständigem Orte ja auch gar nicht erwachsen. Diesen
Sommer war ich einige Tage in Berlin und sah dort noch die „Goldene Brücke“ bei
MeßthalerDas Schauspiel „Die goldene Brücke“ (1901) von Richard Skowronnek hatte am Neuen Theater (Gastdirektion: Emil Meßthaler) in Berlin am 15.6.1901 als Gastspiel des Ensembles von Emil Meßthaler Premiere [vgl. Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 267, 11.6.1901, Morgen-Ausgabe, S. 16] (danach bis zum 17.7.1901 täglich, die letzte Vorstellung des erfolgreichen Stücks wurde am 6.8.1901 gegeben); die Presse kündigte an: „Im Neuen Theater eröffnet morgen das Ensemble des Direktors Emil Meßthaler mit Skowronneks Schauspiel ‚Die goldene Brücke‘ seine Gastvorstellungen. Im weiteren Verlaufe des Gastspiels sollen unter anderem noch Fedorows Schauspiel ‚Lebenshunger‘ und Frank Wedekinds ‚Marquis von Keith‘ zur Aufführung gelangen.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 30, Nr. 297, 14.6.1901, Abend-Ausgabe, S. (2)] Wedekind dürfte wegen des „Marquis von Keith“ (siehe unten) die Premiere besucht haben.. Wie er die „Hoffnung auf Segen“ gespieltDas Schifferdrama „Die Hoffnung auf Segen“ (1901, Original 1900: „On hope van Zegen“) von Herman Heijermans, deutsch von Carl Heine und Helene Riechers, hatte am 13.7.1901 am Neuen Theater (Gastdirektion: Emil Meßthaler) in Berlin Premiere [vgl. Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 323, 13.7.1901, Morgen-Ausgabe, S. 10]. Da war Wedekind nicht mehr in Berlin und konnte insofern Carl Heine im Neuen Theater nicht begegnen. hat, davon konnte ich mich
leider nicht mehr überzeugen, sonst würden wir uns wol im neuen Theater getroffen
haben; aber ich mußte leider vorher abreisen. Ich hatte mich bei dieser
Gelegenheit für die ersten Monate der kommenden Saison für das CentraltheaterWedekind hatte sich für ein Gastspiel bei dem von Martin Zickel geplanten literarischen Kabarett am Berliner Central-Theater (Direktion: José Ferenczy) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1902, S. 255] verpflichtet (siehe Wedekinds Korrespondenz mit Martin Zickel), da er dadurch hoffte, den „Marquis von Keith“ auf die Bühne zu bringen. (Ferenzy)
verpflichtet. So denke ich, daß wir uns um jene Zeit wol in Berlin treffen
werden, denn Sie werden doch wol hie und da in Geschäften von Hamburg herüber
kommen müssen. Große künstlerische Erwartungen bringe ich, unter uns gesagt,
dem Centraltheater nicht entgegen; aber ich kann andererseits auch nicht viel
dabei verlieren, dafür glaube ich schon gesorgt zu haben. Unsere
Scharfrichter-Tournée ist, wie Sie vielleicht aus den Zeitungen erfahren haben
werden, zum großen Theil ins Wasser gefallen. Immerhin war die Reise sehr
hübsch. Ich mußte auf Schritt und Tritt an unsere erste TournéeWedekind war als Ensemblemitglied von Frühjahr bis Sommer 1898 auf Tournee mit Carl Heines Ibsen-Theater gewesen. zurückdenken,
der unsere jetzige Reise an interessanten Ereignissen allerdings bei weitem
nicht gleich kam.
Ich rechne jetzt sehr darauf, meinen Marquis v. Keith,
nachdem ihn Meßthaler nicht gespieltEmil Meßthaler hat seinen Plan, „Marquis von Keith“ im Rahmen seines Gastspiels vom 15.6.1901 bis 15.8.1901 als Direktor am Neuen Theater [vgl. Neuer Theater-Almanach 1901, S. 461] in Berlin uraufzuführen, nicht realisiert. hat und auch nicht hätte spielen können,
in der nächsten Saison in Berlin herauszubringen. Wenn mir das gelingt, dann
will ich dafür mit Freuden jeden Abend im Tingeltangel auftreten. Wenn nicht,
dann wird die bevorstehende Saison eine schwere Leidenszeit für mich, denn das
Balladensingen hängt mir jetzt schon gewaltig zum Hals heraus. Ich werde Gott
danken, wenn die ganze Brettlbewegung abgewirthschaftet hat; und thue
meinerseits auch jetzt schon mein möglichstes, um den Prozeß zu beschleunigen.
Im großen ganzen sehne ich mich von Herzen danach, wieder
einmal in Ruhe eine größere dramatische Arbeit vornehmen zu können. Daraus
wird, bevor der Marquis das Rampenlicht erblickt hat, wol schwerlich etwas werden,
obschon es mir weiß Gott nicht an ernsten schweren Stoffen fehlt. Ich wage aber
nicht einen Schritt vorwärts zu thun, bevor ich weiß, ob mein letzter Schritt
erfolgreich oder vom Uebel war. Den Darmstädter RummelDie Elf Scharfrichter gastierten vom 26. bis 30.7.1901 im Spielhaus der Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe in Darmstadt, die Ernst Ludwig von Hessen 1899 initiiert hatte und die seit der am 15.5.1901 eröffneten ersten Ausstellung dort größtes Interesse erfuhr. Die Presse berichtete über die Gastspielpremiere: „Im Spielhaus begannen gestern abend die ‚Elf Scharfrichter‘ aus München ein auf drei Abende vorgesehenes Gastspiel. [...] Herr Frank Wedekind würde sein Publikum zu Dank verpflichten, wenn er künftig die [...] Balladen, die sich durch eine tadelnswerte Rücksichtslosigkeit gegen das Schicklichkeitsgefühl auszeichnen, aus der Liste seiner Darbietungen für Darmstadt streichen würde.“ [Darmstädter Zeitung, Jg. 125, Nr. 348, 27.7.1901, Nachmittags-Blatt, S. 1497] Das Gastspiel in Darmstadt wurde um zwei Tage verlängert und anschließend in Kreuznach und Ems fortgesetzt. habe ich auf unserer
Tournée aus allernächster Nähe kennen gelernt. Der Großherzog ist von dem
Treiben seiner Künstler gänzlich degoutirtangeekelt, angewidert., dagegen glaube ich nicht, daß er
für die gute Sache schon vollkommen verloren ist. Er brauchte nur die richtigen
Menschen dazu. Die Aufführung von Dehmels LebensmesseRichard Dehmels symbolistisches Versdrama „Eine Lebensmesse. Dichtung für ein festliches Spiel“ sollte im Rahmen der am 15.5.1901 eröffneten ersten Ausstellung der Künstlerkolonie in Darmstadt aufgeführt werden, wozu es trotz der Fürsprache von Peter Behrens (siehe unten) nicht kam. ist eine Idee von P.
BehrensPeter Behrens warb für eine Aufführung von Richard Dehmels Versdrama „Eine Lebensmesse“ in einem Aufsatz [vgl. Peter Behrens: Die Lebensmesse von Richard Dehmel als festliches Spiel. In: Die Rheinlande. Monatsschrift für deutsche Kunst, Jg. 1, Heft 4, Januar 1901 (Sonderheft der Darmstädter Künstlerkolonie), S. 28-40], der ein Regiekonzept präsentierte, außerdem mündlich, wie vielfach bezeugt ist. (unter uns gesagt), er hat mir das Geheimnis zur Pflicht gemacht. Vor
der Hand ist aber die Musik noch nicht geschrieben. Nun leben Sie wohl. Auf
baldiges glückliches Wiedersehen. Meine herzlichsten Grüße an meine liebe
verehrte Freundin Beate. Seien Sie selber bestens gegrüßt von Ihrem getreuen
Frank Wedekind.