München, 29.XII.1900.
Meine liebe geehrte Freundin!
Nun sind schon bald zwei und ein halbes Jahr verflossen,
seit ich nicht mehr das Vergnügen und die Freude hatte Sie zu sehen und zu
sprechen. Und wie viel Ereignisse und Schicksale aller Art liegen für uns beide
in diesem Zeitraum. Ueber Ihre schrecklichen Erlebnisse im Lauf dieses Herbstes
hörte ich von Ihren FreundinnenWedekind hat die Damen wohl am 9.11.1900 in München besucht [vgl. Wedekind an Beate Heine, 7.11.1900]. hier in München. Ich hoffe nur, daß Sie sich
von den Aufregungen allmählich wieder erholt haben. Ich freue mich unendlich,
daß Sie die Festtage in voller Zufriedenheit und mit den schönsten Aussichten
in die Zukunft genießen können. Vor drei Tagen las ich im Berliner TageblattWedekind las dort folgende Notiz: „Dr. Karl Heine, der Direktor des Ibsen-Theaters, wird im Beginn des nächsten Jahres in Berlin gastieren. Zu diesem Zweck wird er, wie wir hören, das Neue Theater in Berlin auf längere Zeit pachten und dort mit einem in Berlin noch nicht zur Aufführung gelangten Drama großen Stiles sein Ensemble einführen. Wegen der neuen bühnentechnischen Einrichtungen, die Dr. Heine für dieses Gastspiel plant, sind bereits Verhandlungen mit den maßgebenden Fachmännern im Gange.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 29, Nr. 655, 27.12.1900, Abend-Ausgabe, S. (2)]
Carls definitiven Abschluß mit dem neuen Theater. Am gleichen Tage erhielt ich
einige sehr liebe Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Carl Heine an Wedekind, 26.12.1900. von ihm. Die Situation während seines kurzen Hierseinsnicht ermittelt. Carl Heine dürfte kurz vor dem 26.12.1900 in München gewesen sein.
hatte ich sofort erfaßt, da ich ja halbwegs auf dem Laufenden war, und
fürchtete nur, ihm mit einem auch nur kurzen Besuche lästig zu fallen. Um so
mehr wußte ich seine Liebenswürdigkeit zu schätzen. Es hätte ihm kein Mensch
anmerken können, um welch große Entscheidungen es sich in dem Augenblicke
handelte, in dem wir eben mit einander sprachen. Ich erwäge nun gerade die
Frage, ob ich im Monat Januar einmal nach Berlin kommen werde. Es zieht mich an
allen Nervenfasern hin; ich fürchte nur das Eine, daß ich mir mehr dadurch
verderbe, als ich gewinnen kann. Mein liebstes wäre, wenn ich im Lessingtheater
den Kammersänger spielen kann. Ich dürste furchtbar nach Bethätigung. Neumann
Hofer hat ihn angenommenHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Otto Neumann-Hofer an Wedekind, 28.12.1900. Die geplante „Kammersänger“-Inszenierung verzögerte sich und Wedekind bemühte sich um eine Auflösung des Vertrags mit dem Berliner Lessingtheater (Direktion: Otto Neumann-Hofer) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1901, S. 242], die erfolgreich war [vgl. Wedekind an Martin Zickel, 23.5.1901, 12.7.1901 und 6.8.1901]. Das Stück hatte dann am 31.8.1901 am Berliner Residenztheater (Direktion: Sigmund Lautenburg) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1901, S. 245] Premiere (in der Titelrolle Willy Martini) ‒ in der Vorstellung vom 8.9.1901 (Sonntag) trat Wedekind als Gerardo auf., ob er sich aber auf das Wagnis einläßt, mich spielen
zu lassen, ist eine andere Frage. Immerhin glaube ich, wenn ich auch nur fünf
Proben haben kann, meiner Sache vollkommen sicher zu sein.
Wie denken Sie denn, liebe Freundin, über Wolzogens
Ueber-BrettlErnst von Wolzogens Buntes Theater (Überbrettl) wurde am 18.1.1901 in den Räumen der Sezessionsbühne in Berlin offiziell eröffnet [vgl. Budzinski/Hippen 1996, S. 437]. Die Eröffnung war zunächst für den 31.12.1900 angekündigt, was revidiert wurde: „Das ‚Bunte Theater‘ Ernst v. Wolzogens wird nun doch nicht am Sylvesterabend in der Sezessionsbühne zum ersten Mal vor der Oeffentlichkeit erscheinen. Herr v. Wolzogen wird bis zu diesem Termin mit allen seinen Vorbereitungen noch nicht fertig und kann seine Neuschöpfung erst gelegentlich des Goethe-Festes, das der ‚Verein zur Förderung der Kunst‘ plant, ins Leben treten lassen. Dagegen ist ein Gastspiel des ‚Bunten Theaters‘ in der Sezessionsbühne für zehn Abende gesichert. Dies Gastspiel wird am 26. Januar seinen Anfang nehmen.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 29, Nr. 655, 27.12.1900, Abend-Ausgabe, S. (2)]. Ich will Gott und allen Heiligen danken, wenn ich von diesem Unternehmen
vollkommen ungeschoren bleibe. Ich hatte ihm meine Mitwirkung zugesagtvgl. Wedekind an Ernst von Wolzogen, 23.12.1900., hauptsächlich
im Hinblick auf meinen „Rabbi Esra“ und einige ähnliche Dinge; nun macht er
aber seit Monaten eine für meinen Geschmack so ekelhafte und meines Erachtens
so mörderisch schädliche ReclameSo bewarb Ernst von Wolzogen in einem gut besuchten Vortrag am 11.12.1900 in Berlin sein demnächst eröffnendes Kabarett etwa mit dem Hinweis auf die Pariser Cabarets: „In Paris habe sich der Versuch gelohnt. Aus den geistreichen und übermüthigen Tollheiten der intimen Künstlerkreise seien die Cabarets entstanden, in denen ohne den gewöhnlichen Zubehör der Spezialitätenbühnen nur die künstlerische Form und der künstlerische Gedanke wirkten, und wo mit Freimuth alle Zustände des Staates und der Gesellschaft von den jungen Poeten gegeißelt würden. Freilich, so weit wie in Paris wären wir noch nicht. Bei uns empfinde man noch nicht so intensiv künstlerisch, daß man über der Form und der Grazie des Gebotenen den Stoff ohne Weiteres übersehe. Gewagte Szenen, wie sie in einigen dieser Cabarets vorgeführt würden, wären in Berlin unmöglich. Aber etwas Aehnliches ließe sich doch schaffen. [...] Ebenso wie sich erste und echte Dichter gefunden, die an dem Werke mitthun wollen, so würde es auch an einem echten Publikum nicht fehlen. Und die Polizei, die Mancher vielleicht als die größte Gefahr jeder freieren Kunstbethätigung betrachte, würde das Ueberbrettl, wie man hoffen dürfe, mit liebenswürdigem Entgegenkommen als einen ‚Ausnahmefall‘ behandeln. So könne man denn frohen Muthes und frohen Sinnes in die Zukunft gehen und als Motto das vergnügte Tralala der lustigen Zechlieder auf die Fahne schreiben.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 29, Nr. 630, 12.12.1900, Morgen-Ausgabe, S. (3)], daß mir alle Lust vergangen ist und ich fest
entschlossen bin, mich um dieses gefährliche Vergnügen herum zu drücken. Heute
bekomme ich eine Anfragenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Akademischer Verein für Kunst und Literatur an Wedekind, 28.12.1900. ‒ Eine Aufführung des Lustspiels „Die junge Welt“ durch den Akademischen Verein für Kunst und Literatur in Berlin kam nicht zustande. von dem Akademisch-dramatischen Verein in Berlin,
der die „Orestie“ gegebenDie Presse meldete (am selben Tag wie der vorliegende Brief): „Auch die gestrige Nachmittagsaufführung der ‚Orestie‘ im Theater des Westens war völlig ausverkauft. Der Andrang war so groß, daß sogar in den Räumen zu beiden Seiten des Parkets und, so weit es anging, im Orchester das Publikum placirt werden mußte. Wie wir hören, beabsichtigt der ‚Akademische Verein für Kunst und Literatur‘ noch einige Wiederholungen des Werkes, die allerdings von dem Erfolg besonderer Vereinbarungen mit den betheiligten Bühnenleitungen (Hoftheater, Deutsches Theater und Lessing-Theater) abhängig sein werden.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 29, Nr. 659, 29.12.1900, Abend-Ausgabe, S. (2)] Premiere der Inszenierung der antiken Tragödie des Aischylos in der Übersetzung von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff durch den Akademischen Verein für Kunst und Literatur unter der Leitung von Hans Oberländer war am 22.11.1900 im Theater des Westens in Berlin. hat, ob sie zu einer Faschings-Veranstaltung meine „Junge
Welt“ aufführen dürfen, da sie auf der Suche nach etwas Literarisch-Parodistischem
seien und die „Junge Welt“ außerdem auch die Frauenfrage behandle und außerdem
die Schulmeisterstücke doch gerade Mode seien. Nun hatte sich wegen der Jungen
Welt Emanuel Reicher vor zwei Monaten in einigen äußerst liebenswürdigen
Briefennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emanuel Reicher an Wedekind, 1.10.1900 (und wohl mindestens zwei weitere nicht überlieferte Briefe etwas früheren Datums). ‒ Eine Aufführung des Lustspiels „Die junge Welt“ durch Emanuel Reicher an der Hochschule für dramatische Kunst in Berlin kam nicht zustande. an mich gewandt, er wollte sie mit seiner dramatischen HochschuleEmanuel Reichers Hochschule für dramatische Kunst in Berlin (Lessingstraße 5) [vgl. Adreßbuch für Berlin 1901, Teil I, S. 1289] ‒ im Herbst 1899 von Emanuel Reicher begründet (der Unterricht dieser privaten Hochschule hatte in noch provisorischen Räumen am 1.11.1899 begonnen). geben
und machte mir Vorschläge zu einigen ganz unbedeutenden Aenderungen. Seither
hat er aber nichts mehr von sich hören lassen. Was soll ich thun? Ich kenne die
Berliner Verhältnisse so wenig und tappe derart im Finstern, daß ich
voraussichtlich thun werde, was ich gewöhnlich thue, nämlich nichts.
Die nächste Anregung zu irgend welcher Aktivität erwarte ich
jetzt von Wien. Eisenschütz, der Dramaturg des Jarno-TheatersOtto Eisenschitz, Dramaturg am Theater in der Josefstadt (Direktion: Josef Jarno) in Wien [vgl. Neuer Theater-Almanach 1901, S. 550], plante Wedekinds „Marquis von Keith“ zu inszenieren [vgl. Wedekind an Otto Eisenschitz, 3.12.1900]. Die Presse hatte gemeldet: „Director Jarno hat das neueste Werk Wedekind’s ‚Marquis von Keith‘ zur Aufführung im Theater in der Josefstadt angenommen.“ [Neues Wiener Journal, Jg. 8, Nr. 2523, 1.11.1900, S. 8] Die Wiener Premiere am Theater in der Josefstadt fand dann allerdings erst am 30.4.1903 statt., will mich nach
Neujahr besuchen, um wegen Besetzung des Marquis v. Keith zu sprechen. Leider
ist das Stück in Berlin MeßthalerEmil Meßthaler war Eigentümer, Direktor und Oberregisseur des am 22.12.1900 eröffneten Intimen Theaters in Nürnberg und zugleich im kommenden Sommer (15.6.1901 bis 15.8.1901) Direktor des Neuen Theaters in Berlin [vgl. Neuer Theater-Almanach 1901, S. 461], wo „Marquis von Keith“ uraufgeführt werden sollte; der Plan zerschlug sich (eine Aufführung des „Marquis von Keith“ kam bei Emil Meßthaler erst 1903 zustande). in die Hände gefallen. Es wird eine Ewigkeit
dauern, bis er es herausbringt. Damit ist alles erschöpft, was meine momentanen
Interessen sind. Warum ich Ihnen das so ausführlich schreibe? Ich denke mir, weil
Sie selber in Berlin sind, mag es Sie interessiren. Ich glaube auch, daß es für
Carl keinerlei Gefahr hat, wenn ich im Lessingtheater spiele. Mißlingt es, dann
trägt er keine Verantwortung. Gelingt es aber, dann bin ich als Schauspieler
seine Schöpfung; sein Schüler und der Kammersänger ist ihm speciell gewidmetWedekinds Einakter „Der Kammersänger“ (1899) enthält die gedruckte Widmung: „Dem Meister deutscher Bühnenkunst Dr. Carl Heine in treuer Freundschaft gewidmet.“ [KSA 4, S. 333].
Nun schreiben Sie mir bitte, wie es Ihnen geht, wie Sie leben in der Hochfluth
der Saison. Ich denke mir, daß Sie jetzt jeden Abend einer anderen großen
Sensation beiwohnen. Grüßen Sie bitte Carl auf das allerherzlichste. Ich sende
Ihnen die allerbesten Wünsche zum neuen Jahr und für alle Zukunft und gratulire
Ihnen aufrichtig dazu, daß Sie das langersehnte Ziel endlich glücklich erreicht
haben. ‒ Mit
herzlichsten Grüßen Ihr Ihnen sehr ergebener
Frank.