Festung Königstein, 28.XII.1899.
Meine hochverehrte Freundin!
Tausend Dank für alles, für die prächtigen Handschuhe und
für die mir so sehr nützlichen Delikatessen, vor allem für Ihre freundlichen
Zeilenvgl. Beate Heine an Wedekind, 22.12.1899.. Nun aber muß ich sofort einschalten, daß eine Lücke zwischen uns
entstanden ist. Ich erhalte eben einen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Carl Heine, 14.12.1899. zurück, den ich Ihrem lieben Herrn
Gemahl vor vierzehn Tagen nach Berlin schrieb. Ich sende ihn mit diesen Zeilen
ab. Was müssen Sie von mir gedacht haben, daß ich garnichts von mir hören ließ.
Daß ich den Weihnachtsabend einsam verbracht habe, brauche ich Ihnen nicht zu
sagen. In Gedanken war ich bei Ihnen. Ein so großer Phlegmatiker ich bin,
beginnt sich meiner doch nachgerade ein gewisser Trübsinn zu bemächtigen. Aber
ich habe ja jetzt nur noch einen MonatWedekind wurde am 3.2.1900 aus der Festungshaft entlassen. vor mir. Ich finde sehr richtig, was Sie
mir schreiben, wir müssen uns wieder einmal sehen.
Wenn also nichts dazwischen kommt und Sie zu der Zeit noch in Hamburg sind,
besuche ich Sie auf einige Tage. Es ließe sich nur noch erwägen, ob wir uns
nicht lieber Rendezvous in Berlin geben, vorausgesetzt, daß Sie dort Geschäfte
haben. Ich würde auch in Berlin nur auf Ihre liebe Gesellschaft angewiesen
sein. Die Gründe finden sich in den Zeilen an Ihren verehrten Herrn Gemahl. Geschäftlich
kann ich mich nicht beklagen. Ich hatte das Kunststück fertig gebracht, den
ersten Act eines DramasWedekinds „Marquis von Keith“ (1901) erschien unter dem Titel „Münchner Scenen. Nach dem Leben aufgezeichnet“ in der von Otto Julius Bierbaum, Alfred Walter Heymel und Rudolf Alexander Schröder herausgegebenen Monatsschrift „Die Insel“, der 1. und 2. Akt im Frühjahr 1900 [vgl. Die Insel, Jg. 1, 3. Quartal, Nr. 7, April 1900, S. 3-76], die weiteren drei Akte bis zum Sommer sowie die Buchausgabe vordatiert im Herbst [vgl. KSA 4, S. 425]., das noch nicht fertig ist, schon zu Geld zu machen,
natürlich lediglich für Abdrucksrecht, so daß ich in der ersten Zeit nach
meiner Entlassung die Ellenbogen frei haben werde. Sehr bald werde ich dann
aber nach München gehen müssen, um meine dortigen Hinterlassenschaften zu
ordnen und den noch jungfräulichen Boden der Inseldie im Vorjahr gegründete Monatsschrift „Die Insel“ [vgl. Wedekind an Beate Heine, 22.9.1899]. zu cultiviren.
Herrn Doctor meinen herzlichsten Glückwunsch zu seinem
Breslauer VortragCarl Heine hat am 12.12.1899 in Breslau auf einer von der Freien literarischen Vereinigung veranstalteten Feier zu Heinrich Heines 100. Geburtstag die Festrede gehalten, die großen Beifall fand.. Nun eine heikle Angelegenheit, über die ich Sie ersuchen
würde möglichst mit niemandem zu sprechen. Martin Zickel bittet michHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Martin Zickel an Wedekind, 27.12.1899. Eine Bitte um Wedekinds Mitwirkung an einem literarischen Varieté (siehe unten) steht auch später noch im Raum [vgl. Wedekind an Martin Zickel, 27.4.1901]. um
Beiträge und Mitwirkung zu einem literarischen VarietéMartin Zickel dürfte mit seiner Sezessionsbühne ein solches Kabarett geplant haben. Carl Heine hatte Wedekind angeboten, in einem von ihm geplanten Kabarett oder literarischen Varieté mitzuarbeiten [vgl. Carl Heine an Wedekind, 26.8.1899]. Den Plan eines Varietés hat davor bereits Beate Heine erwähnt [vgl. Beate Heine an Wedekind, 16.3.1899]. in Berlin. Ich denke
nicht im Traum daran, darauf einzugehen, da ich Herrn Doctor im Herbst auf die
gleiche Anfragevgl. Carl Heine an Wedekind, 26.8.1899. beinahe einen Korb gegebenAnspielung auf einen nicht überlieferten Brief; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Carl Heine, 10.10.1899.. Wenn das aber auch nicht der Fall
wäre, so würde ich mich von der Sache, die meines Erachtens in einen großen
KladderadatschChaos, Durcheinander. ausläuft, fernhalten. Diese meine Ansicht aber unter dem Siegel
der tiefsten Verschwiegenheit. Ich ersehe nun aus allerhand Feuilletons aus der
Provinz, die mir ein Journalistnicht identifiziert. zugeschickt, daß seit Monaten mein Name aufs
engste mit diesen Bestrebungen verknüpft ist. Wenn ich also dabei bin, dann
werde ich den ganzen Kladderadatsch ausfressen müssen. Bin ich aber nicht
dabei, so wird man sagen, daß meine Abwesenheit an dem Kladderadatsch schuld
war. Wird es aber ein Kladderadatsch oder nicht, auf alle Fälle bleibt das
Berliner Unternehmen die allerwirksamste Reclame für ein gleiches
nachfolgendes, das man später mit viel geringeren Mitteln in einer anderen
Stadt, eventuell auch wieder in Berlin, beginnen könnte und dazu stände ich
Herrn Doctor vollkommen zur Verfügung. Also, um zum Schluß zu kommen, von dem
Berliner Unternehmen werde ich mich auf
alle Fälle fern
halten, möchte dadurch aber weder Zickel vor den Kopf stoßen, noch mich mit
Hartleben und WolzogenErnst von Wolzogen plante ‒ womöglich gemeinsam mit Otto Erich Hartleben ‒ selbst die Gründung eines Kabaretts, das spätere Bunte Theater (Überbrettl) in Berlin (offiziell eröffnet am 18.1.1901). Inwiefern dieses Vorhaben mit den Plänen Martin Zickels in Verbindung stand, ist ungeklärt., die dabei betheiligt sind, noch mehr verfeinden, als
ich es schon bin, und deshalb werde ich eine abwartende Stellung einnehmen. Bis
jetzt habe ich Zickel noch garnicht geantwortet; drängt er mich, dann berufe
ich mich auf meine Gebundenheit an Ihren Herrn Gemahl; sollte mich Herr Doctor
aus Rücksicht auf Zickel frei geben, dann suche ich eine andere Ausflucht. Dies
ist mein Plan, den ich hiemit vollkommen in Ihre Hände liefere, aber mit der
Bitte, keiner Seele etwas davon zu sagen. Alles weitere könnten wir in Hamburg
besprechen. Ich glaube wie gesagt nicht, daß es Herr Doctor zu bedauern hat,
daß er dies heikle Unternehmen auf einem so heiklen Boden wie Berlin und mit
einer so heiklen Persönlichkeit wie ich es bin, nicht inscenirt. Ich
meinerseits habe aber nicht die geringste Lust, auch hier wieder wie beim
Simplizissimus die Kastanien aus dem Feuer zu holen. In Hamburg könnten wir die
Sache näher besprechen; träfen wir uns in Berlin, so wäre es für mich nur unter
der Bedingung des Incognitos. Andererseits wäre es vielleicht auch gescheiter
von Berlin fern zu bleiben.
Ich bitte Sie, meine liebe Freundin, seien Sie über dies
Papier nicht böse. Das Festungspapier ist für einige Tage ausgegangen und ich
kann es unmöglich länger verschieben, Ihnen meinen herzlichsten Dank für Ihre
reiche Bescherung zu melden. Die besten aufrichtigsten Wünsche für das nächste
Jahr an Sie und Herrn Doctor. Mit den herzlichsten Grüßen bin ich Ihr Ihnen
treuergebener
Frank Wedekind.