[1. Druck:]
Leipzig, 16.IX.1899.
(Gefängnis.)
Meine hochgeehrte Freundin,
so rasche Antwort hätten Sie nicht erwartet, aber erlauben
Sie mir, mit der Thür ins Haus zu fallen, und um es gleich zu sagen, es würde
sich um Mk. 50.‒
handeln, die ich von Ihrer Güte annehmen würde, da ich thatsächlich
unvorhergesehen in Kalamität gekommen bin. Ich erhielt gestern drei Nachrichten
auf einmal, 1. Ihre lieben freundlichen Zeilenvgl. Beate Heine an Wedekind, 14.9.1899., die mir eine große Freude
waren, 2. die Benachrichtigungnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Königliches Justizministerium Sachsen an Wedekind, 15.9.1899. Das Königliche Justizministerium in Dresden (große Meißnerstraße 15) [vgl. Adreßbuch für Dresden 1900, Teil I, S. 279] hat den wegen Majestätsbeleidigung verurteilten Wedekind, der im Gefängnis in Leipzig seine Haft verbüßte, zu Festungshaft begnadigt und damit ein Gnadengesuch bewilligt. Die Rechtsanwälte Felix Zehme und Kurt Hezel hatten im Auftrag Wedekinds am 21.8.1899 an das Königliche Ministerium der Justiz zu Dresden den Antrag gestellt, „dem Verurteilten Wedekind die Allerhöchste Gnade dadurch zu Teil werden zu lassen, daß die erkannte Gefängnisstrafe im Gnadenweg in Festungshaft umgewandelt werde.“ [KSA 1/II, S. 1715] Wedekind trat die Haft auf der Festung Königstein bei Dresden am 21.9.1899 an., daß meine Strafe durch Gnade se. M. des Königs in Festungshaft
umverwandelt ist und 3. eine lakonische Benachrichtigung von Langennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Korfiz Holm, Albert Langen Verlag an Wedekind, 14.9.1899., daß er
keine Ursache mehr sehe, mir Geld zu schicken. Auf diese Nachricht hatte er
mich vierzehn Tage warten lassen, und zwar gerade bis zu dem Tage, wo mein
Geld hier zu Ende ist und wo ich, um die Verlegenheit auf den Gipfel zu
treiben, nach der Festung Königstein überführt werden soll. Hier habe ich kein
Geld mehr nöthig. Würden Sie mir meine Bitte gewähren, dann würde ich Sie
ersuchen, die Summe zu schicken an: Den Festungsgefangenen F. W. Festung
Königstein. Von dort aus werde ich mich, sobald ich einigermaßen eingewöhnt
bin, mit der „Jugend“ in Verbindung setzen und dafür arbeiten.
Und nun zu Ihnen, die Sie mich einen Shannon RegistratorBeate Heine hat Wedekind scherzhaft als eine solche Sortiereinrichtung bezeichnet [vgl. Beate Heine an Wedekind, 14.9.1899].
nennen; wenn ich mir erlaubte, jemanden zu registriren, so waren das doch nur
Leute, die Ihr Herr Gemahl Material nennt. Es freut mich aber unendlich, daß
Sie im ganzen einen so angenehmen Sommer verbracht haben. An Herrn und Frau
OberdiekBeate Heine hat von dem Ehepaar Dr. med. Karl Oberdieck und Gertrud Oberdieck (geb. Bock) aus Hannover berichtet [vgl. Beate Heine an Wedekind, 14.9.1899]. erinnere ich mich sehr gut aus einer Pilsner Bierstube in HannoverWedekind meint wahrscheinlich den „Pilsener Bierkeller“ [Baedeker 1899, S. 8] in der Windmühlenstraße 2b in Hannover.. Im
ganzen geht durch Ihre Zeilen eine sehr stimmungsvolle Ruhe, der man Ihr Leben
in Helgoland und dessen Wirkung sehr anmerkt, aber in welcher Weise wollen Sie
sich sonst so sehr verändert haben? Sie sind praktischer, weitsichtiger
geworden? Sie überlassen mir das zu rathen. Aber jedenfalls, da Sie mit
augenfälligem Gefallen davon reden, machen Sie mich auf unser Wiedersehen sehr
gespannt. Immerhin würde ich mich auch ohne das darauf gefreut haben, beinahe
wie man sich freut, aus einem Kriegszug einmal wieder nach Haus zu kommen.
Eines liegt mir noch schwer auf dem Herzen, aber davon
wollen Sie vielleicht gar nichts hören. Das ist mein StückWedekind war dabei, das Manuskript „Ein gefallener Teufel“, die Urfassung des „Marquis von Keith“ (1901), umzuarbeiten [vgl. KSA 4, S. 413]., das mir in seiner
Form, in der Sie es gesehen, jetzt geradezu entsetzlich skelettartig und
unplastisch erscheint, so zwar, daß ich mich schäme, Worte darüber zu
verlieren. Dagegen habe ich jetzt die Ueberzeugung, daß es etwas geworden ist.
Und Sie schrieben mirBeate hat dem Autor ihre Eindrücke von „Ein gefallener Teufel“ beschrieben [vgl. Beate Heine an Wedekind, 7.7.1899]. so liebenswürdig, es sei etwas Großes darin. Das hatte
ich allerdings angestrebt, aber dabei war es geblieben. Ihr nächster Aufenthalt
Dresden wird Ihnen wol was Kunstgenuß betrifft mehr als Hamburg bieten, aber
schöne Cafés und Restaurants giebt es da nur sehr spärlich. Ebenso ist die
Bevölkerung wol um vieles weniger interessant. Aber für einen Winteraufenthalt
mag es ausreichen.
Würden Sie Herrn Doctor bitte meine besten Wünsche zum Gelingen
seiner Schritte sagen. Was mich betrifft, so belebt mich die bevorstehende
Veränderung und ich freue mich auf Natur und Aussicht, trotzdem der Winter vor
der Thür steht. Die Freiheit, mich mit meiner Bitte an Sie zu wenden, nehme ich
nur aus Ihrer mir bewiesenen großen Güte, aus einem Vertrauen, das ich nicht
näher definiren kann.
Seien Sie im Voraus vielmals bedankt, auf jeden Fall, auch
wenn es Ihnen gerade nicht möglich ist. Grüßen Sie Herrn Doctor und seien Sie
herzlichst gegrüßt von ihrem Ihnen aufrichtig ergebenen
Frank Wedekind.
Herrn Doctor meinen besten Dank für seine freundlichen
Zeilenvgl. Carl Heine an Wedekind, 26.8.1899..
[2. Zitat in J. A.
Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]
Ich erhielt gestern drei Nachrichten auf einmal, 1.
Ihre lieben freundlichen Zeilen, die mir eine große Freude waren, 2. die
Benachrichtigung daß meine Strafe durch Gnade se. M. des Königs in
Festungshaft verwandelt ist und 3. eine lakonische Benachrichtigung von Langen,
daß er keine Ursache mehr sehe, mir Geld zu schicken. Auf diese Nachricht hatte
er mich vierzehn Tage warten lassen und zwar gerade bis zu dem Tage, wo mein
Geld hier zu Ende ist und wo ich, um die Verlegenheit auf den Gipfel zu treiben
nach der Festung Königstein überführt werden soll. Hier habe ich kein Geld mehr
nötig. Würden Sie mir meine Bitte gewähren dann würde ich Sie ersuchen, die
Summe zu schicken an: Den Festungsgefangenen F. W. Festung Königstein. Von
dort aus werde ich mich sobald ich einigermaßen eingewöhnt bin, mit der „Jugend“
in Verbindung setzen und dafür arbeiten [...]