Hamburg, den 26. Juni 1899
Eichenallee 11
Mein lieber Herr Wedekind.
Ein Herr Caslin aus Paris hat mir Ihr neues Drama übersandtdas Manuskript „Ein gefallener Teufel“ (die Urfassung des „Marquis von Keith“), das Carl Heine durch den von Wedekind mit der Übersendung beauftragten Hans Kaeslin aus Paris in Hamburg erhalten hat [vgl. KSA 4, S. 413].;
durch meinen Aufenthalt in BerlinCarl Heine hatte eine kurze Reise nach Berlin unternommen [vgl. Beate Heine an Wedekind, 7.7.1899], von der er dem vorliegenden Brief zufolge am 23.6.1899 nach Hamburg zurückkehrte. habe ich es aber erst vor drei Tagenam 23.6.1899.
erhalten. Ich habe es sofort gelesen und zwar mit Vergnügen. Der Fortschritt in
dramatisch technischer Beziehung ist bedeutend. Der Heldder Marquis von Keith (Hauptfigur in „Ein gefallener Teufel“). (zwischen Dr Schön und SchwiegerlingDr. Schön ist die männliche Hautfigur in der Tragödie „Der Erdgeist“, Fritz Schwigerling die Hauptfigur in dem gleichnamigen Schwank (auch unter dem Titel „Der Liebestrank“) ‒ beide Stücke hatte Carl Heine im Vorjahr in Leipzig urausgeführt.) und die HeldinSilvia, verwitwete Gräfin Werdenfels ist in „Ein gefallener Teufel“ die Geliebte des Marquis von Keith (in „Marquis von Keith“ heißt sie dann Anna). (eine sehr verbesserte Luludie weibliche Hauptfigur in der Tragödie „Der Erdgeist“ (1895).!) sind viel
deutlicher charakterisiert, wie ihre Vorgänger und an Stelle des blos Rhetorischen
ist viel Leidenschaft getreten. ThereseTherese Griesinger ist in „Ein gefallener Teufel“ (und in „Marquis von Keith“) die Lebensgefährtin des Marquis von Keith. finde ich sehr fein gezeichnet,
und der letzte Akt hebt nocheinmal | sehr fein die Unterschiede zwischen
Arbeits- und Luxusmenschen hervor. Ob Ernst Scholzin „Ein gefallener Teufel“ (und in „Marquis von Keith“) konzeptionell die Gegenfigur zum Marquis von Keith. nicht allzu exceptionellaußergewöhnlich.
ist, um auf der Bühne zu wirken?
Nun zur Hauptsache: Was soll ich mit dem Mskr. machen? Soll ich es einem
Verleger anbieten? Welcher? Einem Agenten? Einem Theater? Es wird nicht leicht
sein, es auf der Bühne unterzubringen; ich würde Ihnen rathen Central-Theater ‒ HamburgDirektor des Zentralhallen-Theaters (auch: Theater der Centralhalle) in Hamburg war Ernst Drucker [vgl. Neuer Theater-Almanach 1900, S. 379]. „Das Centralhallen-Theater zählt heute unstreitig zu den schönsten Theatern Deutschlands. Dasselbe ist ein prachtvoller, im Renaissance-Styl gehaltener Neubau und kann ca. 3000 Personen aufnehmen. [...] Das Theater kultivirt hauptsächlich das große Ausstattungsstück mit Ballet, doch werden auch Volksstücke und klassische Dramen aufgeführt.“ [Hamburger Adreß-Buch für 1899, Teil VII, S. 1430] Neben diesem Repertoire wurden auch anspruchsvolle moderne Dramen inszeniert. oder Ostend-Theater
BerlinDirektor des Ostend-Carl Weiß-Theaters in Berlin (ab Herbst 1899: Carl Weiß-Theater, später: Rose-Theater) war Carl Weiß [vgl. Neuer Theater-Almanach 1900, S. 266], als Schauspieler ein beliebter Darsteller komischer Rollen, der auch die Oberregie führte. Das war ein kleines Vorstadttheater, das Volksstücke und Sensationsstücke, aber auch Klassiker-Inszenierungen brachte.; da das für Feinschmecker interessante Drama doch ein wenig im Gewand des Sensations Dramas F erscheint.
Ich bitte Sie also, mir zu schreiben, was für Absichten Sie mit
dem Drama haben, resp.beziehungsweise. welche Verpflich|tungen (ev.
Langen oder EntschAlbert Langen war Wedekinds Verleger (seine Werke erschienen im Albert Langen Verlag in München), der Bühnenvertrieb lag bei dem von Theodor Entsch geführten Theaterverlag A. Entsch in Berlin. gegenüber)?
Sollte ich Ihnen sonst irgendwie dienlich sein können, so melden Sie es mir bitte.
Mit den besten Grüßen und Wünschen von meiner Frau und mir
bin ich
Ihr stets ergebener
Dr Carl Heine.
x Übrigens fehlt dem athemlos dahinstürmenden Drama hin und
wieder ein Ruhepunkt, ein paar
eingeschobene Scenen könnten dem abhelfen.