Berlin, 17.I.1897.
Lieber FreundHans Richard Weinhöppel, seit dem Vorjahr von seinem vierjährigen Aufenthalt in den USA zurück, lebte inzwischen als Musiklehrer in München (Corneliusstraße 4) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1897, Teil I, S. 542].,
Sie haben sich also wieder für mich geopfertHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreibens zur Geldsendung; erschlossenes Korrespondenzstück: Hans Richard Weinhöppel an Wedekind, 16.1.1897. Wedekind hatte von dem Freund 30 Mark geschickt bekommen [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 20.1.1897]. und ich kann
Ihnen nicht anders als mit Worten danken. Ich muß Sie immer noch vertrösten auf
das große Ereignisdie geplante Uraufführung der Komödie „Die junge Welt“ (1897) in Berlin. Wedekind stand „in Verhandlungen mit Ludwig Fulda und Otto Erich Hartleben vom Vorstand der Berliner Dramatischen Gesellschaft, die das Stück am Berliner Residenztheater auf die Bühne bringen wollten.“ [KSA 2, S. 631]. Gott sei Dank rückt es näher, am 15. FebruarWedekind nahm an, seine Komödie „Die junge Welt“ (siehe oben) werde am 15.2.1897 durch die Dramatische Gesellschaft im Residenztheater (Direktion: Sigmund Lautenburg) uraufgeführt. Er hatte den Direktor am 13.1.1897 aufgesucht und dort Otto Erich Hartleben getroffen, wie dieser notierte: „bei Lautenburg wegen Contract mit der Dramatischen Gesellschaft. Dort Wedekind getroffen.“ [Tb Hartleben] Der Vertrag wurde am 15.1.1897 geschlossen, wie Otto Erich Hartleben festhielt: „Abschluß des Contracts mit Lautenburg“ [Tb Hartleben]. Die Aufführung kam nicht zustande [vgl. KSA 2, S. 631]. – Die Uraufführung von „Die junge Welt“ fand erst am 22.4.1908 am Münchner Schauspielhaus statt., wenn nichts
dazwischen kommt, soll die Aufführung der „Jungen Welt“ sein. Wenn es schlecht
geht, dann raffe ich hier so viel Geld als möglich zusammen und fahre aufs
Gerathewol nach Paris, denn neue Glücksfälle abzuwarten hätte ich außer allem
anderen auch nicht mehr die Geduld.
Ich lebe hier schlimmer als ich jemals in München gelebt,
aber bitte sagen Sie niemandem was davon. Ich mache die bedenklichsten Salto
Mortali, um nicht Hungers zu crepiren, da es mir schlechterdings unmöglich ist,
etwas positives zu arbeiten. Ich schreibe Ihnen das nur, damit Sie meine
Unerschütterlichkeit gegenüber meinen Münchner VerpflichtungenAnspielung auf seine Liebesbeziehung mit Frida Strindberg (siehe unten); zugleich hatte Wedekind noch finanzielle Verpflichtungen für seine Münchner Wohnung (siehe unten), die er im Brief anspricht. nicht
mißverstehen. An Weiblichkeit cultivire ich einige schöne Exemplare aber –
platonisch, wie es mir schlechterdings nicht anders möglich ist.
Das alles sind die Einleitungen zu dem Ereignisdie erwartete oder jedenfalls erhoffte Uraufführung seiner Komödie „Die junge Welt“ (siehe oben)., von dem ich
einen Umschwung in meinem Leben erwarte. Es ist mir das vor einem bedeutenden
Ereignis immer so gegangen. Wenn nur das Omen nicht täuscht.
Sie können sich denken, wie ich mich aus dieser
Lebensführung nach Ihnen zurücksehne. Geht alles gut, dann kommen Sie mir
vielleicht bis DresdenFrank Wedekind reiste vorerst nicht nach Dresden; er zog erst am 17.8.1897 von Berlin nach Dresden um [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 23.8.1897], wo seine Schwester Erika Wedekind, die erfolgreiche Hofopernsängerin, wohnte, nachdem alle Versuche, seine Stücke in Berlin auf die Bühne zu bringen, gescheitert waren. entgegen und wir schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe.
Das ist das, was ich mir erträume. Ich schreibe es nicht, um Ihnen den Mund
wässerig zu machen. Dann würden wir auch die Juncker wiedersehendie aus Dresden stammende Malerin Käthe Juncker, mit der Wedekind befreundet war und 1892 in Paris mit ihr eine Liebesaffäre hatte; im Pariser Tagebuch (er nannte sie dort überwiegend Katja) erwähnte er gemeinsame Treffen mit ihr und Hans Richard Weinhöppel [vgl. Tb 30.4.1892, 1.5.1892, 3.5.1892, 8.5.1892].. Das wäre
nicht schlecht. Aber alles das sind vor der Hand nichts als Träume. Soviel ist
gewiß, daß, wenn ich mit dem ersten Stück hier Glück habe, die beiden nächstendie Tragödie „Der Erdgeist“ (1895) und der noch ungedruckte Schwank „Der Liebestrank“ (1899) [vgl. Wedekind an Otto Erich Hartleben, 29.12.1896]; auch die Aufführungspläne für diese beiden Stücke wurden seinerzeit in Berlin nicht realisiert. sofort
folgen werden, denn der Boden könnte gar nicht besser vorbereitet sein.
Frau Strindberg fragt michHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Frida Strindberg an Wedekind, 16.1.1897. Frida Strindberg, mit der Wedekind seit dem Vorjahr in München eine Liebesbeziehung hatte, dürfte ihre Ankunft in Berlin, wo sie Wedekind besuchte, angekündigt haben; sie traf wohl am 19.1.1897 am Anhalter Bahnhof in Berlin ein, wo Wedekind sie abholte [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 20.1.1897]., ob ich Ihnen erlaube auf meinem
Zimmerin Wedekinds Wohnung in München (Türkenstraße 69, 2. Stock rechts) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1897, Teil I, S. 539; Teil II, S. 526], die er noch nicht aufgegeben hatte. Er war bis zum 25.1.1897 dort gemeldet [vgl. EWK/PMB Wedekind]. zu arbeiten. Das ist doch selbstverständlich. Arbeiten Sie, was und mit
wem Sie wollen. Ich hoffe meiner WirthinAnna Mühlberger in München (Akademiestraße 21) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1897, Teil I, S. 332], Wedekinds Zimmerwirtin seiner Münchner Wohnung (siehe oben) [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 20.1.1897]. nun doch in den nächsten Tagen etwas
schicken zu können, dann werde ich ihr das extra einschärfen, andernfalls haben
Sie ja selber die nöthige Autorität. Irene hat mir hierhergeschriebenHinweis auf einen nicht überlieferten Brief; erschlossenes Korrespondenzstück: Irene Triesch an Wedekind, 18.12.1896. Irene Triesch, Schauspielerin in München (Goethestraße 38) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1897, Teil I, S. 517], war nach wie vor Mitglied im Ensemble des Deutschen Theaters in München [vgl. Neuer Theater-Almanach 1897, S. 444]., das gute
Geschöpf, und ich habe ihr nicht geantwortet, es sind schon mehr als vier
Wochen her. – –
Ich erscheine mir selber wie Jemand, der in Gesellschaft
etwas sucht und bei dem es „heißer“ und „heißer“ wird. Bei mir ist es jetzt
sehr heiß, und wenn ich es diesmal nicht finde, werde ich es niemals finden. Ich
bitte Sie sich daraus meine Gemüthsverfassung und alles übrige zu erklären.
Ich schicke Ihnen die herzlichsten innigsten Wünsche und die
besten Größe. Um mich her schwatzen mehrere abgeschmackte Schauspielerinnen,
ich finde die Worte nicht. Aber vor allem seien Sie meines Dankes gewiß.
Ihr treuer
Frank Wedekind.