[1. Druck:]
München, 27.VII.1898.
Liebe verehrte Frau Doctor,
Ich hoffte Ihnen schon eine günstige Nachricht geben zu
können, sonst hätte ich Ihnen früher geschrieben. Herzlichen Dank für all das
Viele Schöne, womit Sie mir meinen GeburtstagWedekinds 34. Geburtstag am 24.7.1898, zu dem Beate Heine ihm ein Geburtstagspaket mit Begleitbrief geschickt hat (siehe unten). verherrlicht. Die Kuchen
schmecken exquisit. Wie mochten Sie sich aber auf dem Lande, losgerissen von
aller feineren Küchencultur die Mühe machen, Kuchen zu backen. Und dann diese
Unmenge Feuer mit der entzückenden schwarz und goldenen Hülse. Und das schöne
Cigaretten-Etui! und der Bleistift. Alles was ich jetzt Elegantes auf meinem
Schreibtisch habe, sind Gaben aus Ihrer Hand, verehrte Frau. Inmitten thront
der goldene PetschaftSiegelstempel. und im Hintergrund die Kalender-Eule, die übrigens noch
immer das richtige Datum zeigt, da sie sich der besonderen Fürsorge meiner
jeweiligen Wirthin erfreut. GesternWedekind hat am 26.7.1898 mit Georg Stollberg, Oberregisseur und Schauspieler sowie dann neuer Direktor (siehe unten) am Münchner Schauspielhaus [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 443], eine Vereinbarung für sein Engagement zunächst als Schauspieler am Münchner Schauspielhaus getroffen. habe ich mit dem Oberregisseur des
Münchner Schauspielhauses abgemacht, daß er mich zu kleinen Rollen verwendet.
Er nahm mein Anerbieten mit großem Vergnügen an. Betreffs Erdgeist habe ich
noch keine bestimmte Aussage. Indessen herrscht an dem Theater eine solche
VerwirrungEmil Drach, für die Moderne engagierter Direktor des am 17.11.1897 eröffneten Münchner Schauspielhauses, war finanziell an diesem Theaterprojekt gescheitert und musste zurücktreten. Sein Nachfolger wurde der bisherige Oberregisseur Georg Stollberg. Der Wechsel war nicht ganz einfach und vollzog sich im Sommer 1898 (siehe Wedekinds Korrespondenz mit Georg Stollberg)., daß von einem Tag auf den andern alles möglich und wieder unmöglich
werden kann.
Als ich das erste Mal bei Langen war, kam die Nachricht, daß
der Simpl. wieder mal auf allen Bahnhöfen Preußens verbotenDer Verkauf des „Simplicissimus“ (und anderer Zeitschriften) war durch eine Verfügung des preußischen Staatsministers der öffentlichen Arbeiten und Chefs des Reichseisenbahnamtes Karl von Thielen auf preußischen Bahnhöfen seit dem 8.7.1898 verboten: „Wir bemerken dabei ausdrücklich, daß Preßerzeugnisse, insbesondere periodisch erscheinende, die durch Wort, Bild oder Geschäftsanzeigen Anstand und gute Sitte verspotten oder verletzen, die Sinnlichkeit überreizen, die die idealen Güter des Lebens herabzuwürdigen, werthvolle vaterländische Einrichtungen und deren Träger verächtlich zu machen, Neid und Haß unter den Staatsangehörigen zu erregen geeignet sind, auch wenn sie die Grenzen des Strafgesetzbuches vermeiden, von dem Verkaufe in Zukunft auszuschließen sind“ [KSA 1/II, S. 1136f.]. Wedekind zitierte in seinem Gedicht „Das Eisenbahn-Verbot“ (siehe unten) aus dieser Verfügung, die in diversen Zeitungen abgedruckt war. Das Branchenblatt meldete das Verkaufsverbot ebenfalls: „Der Verkauf der beiden Zeitschriften ‚Simplicissimus‘ und ‚Das Narrenschiff‘ ist auf sämtlichen preußischen Bahnhöfen verboten worden.“ [Verbote im Bahnhofsbuchhandel. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 170, 26.7.1898, S. 5477] sei. Er flehte mich
um ein Gedichtder „Jubel-Hymnus auf den Preußischen Bahnhöfen zu singen“ [KSA 1/I, S. 486f.], der auf das Verkaufsverbot des „Simplicissimus“ in preußischen Bahnhofsbuchhandlungen reagierte (siehe oben) und am 6.8.1898 im „Simplicissimus“ [Jg. 3, Nr. 19, S. 146] mit einem redaktionellen Kommentar Albert Langens erschienen ist [vgl. KSA 1/II, S. 1743-1746]. an, wozu ich mich auch herbeiließ. Vor drei Tagen schrieb ich
das zweite GedichtWedekind schrieb am 24.7.1898 das Gedicht „Das Eisenbahn-Verbot“ [KSA 1/I, S. 490-493], das ebenfalls auf das Verkaufsverbot des „Simplicissimus“ an preußischen Bahnhöfen reagierte (siehe oben) und illustriert am 13.8.1898 im „Simplicissimus“ [Jg. 3, Nr. 20, S. 154] veröffentlicht wurde [vgl. KSA 1/II, S. 1135-1140]. für ihn. Er rieb sich die Hände und sagte, es ist doch ein
Glück, daß Sie wieder hier sind. Ob es nicht möglich wäre, daß ich hier bliebe.
Ich sagte, ich könne Dr. Heine doch nicht so ohne weiteres im Stich lassenWedekind hatte sich eigentlich von Carl Heines Ibsen-Theater in Leipzig schon verabschiedet; er war dort bis vor wenigen Wochen als Dramaturg und Schauspieler engagiert gewesen [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 408] und hatte mit dem Ensemble eine große Gastspieltournee unternommen [vgl. Wedekind an Beate Heine, 24.3.1898]..
Gestern wollte er Contract mit mir machen, aber ich lehnte ab, da ich ja im
Voraus weiß, daß ich ihn nicht halten kann. Der alte Biörnsonder norwegische Schriftsteller Bjørnstjerne Bjørnson, Albert Langens Schwiegervater., der offenbar zu
dem Zwecke von ihm engagirt ist, machte mir die glühendsten Complimente über
meine Gedichte. Gestern las ich das Drama Johanna vom jungen BiörnsonBjørn Bjørnsons Schauspiel „Johanna“ (1898) war aus dem Norwegischen übersetzt vor wenigen Wochen im Albert Langen Verlag in München erschienen [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 133, 13.6.1898, S. 4395]., was ohne
Zweifel der Schlager für die nächste SaisonWedekind sah die Münchner Premiere von Bjørn Bjørnsons „Johanna“ am 24.8.1898 im Münchner Residenztheater [vgl. Wedekind an Beate Heine, 25.8.1898; Wedekind an Bjørn Bjørnson, 29.8.1898]. wird: furchtbar langweilig und
eintönig und furchtbar wahr und gefühlvoll. Rosmersholm ist dagegen noch das
reine Cirkus-Spectakel. Zugleich sagt mir Langen, daß der junge Biörnson, der
in Christiania TheaterdirectorAlbert Langens Schwager Bjørn Bjørnson war der erste Intendant des soeben gegründeten norwegischen Nationaltheaters in Christiania (heute: Oslo). ist, nächsten Winter dort den Erdgeist geben
wolle. Bevor ich den jungen Biörnson selber gesprochen, habe ich nicht viel
Ursache, daran zu glauben.
Langen trägt sich jetzt ganz entschieden mit Theaterplänen
und ich versäume keine Gelegenheit, um ihm vom Ibsen-Theater und dessen
DirectorCarl Heine war Direktor des Ibsen-Theaters in Leipzig (siehe oben). zu sprechen. Thatsache ist, daß er eine Agentur zum Vertrieb von
Stücken, die bei ihm erschienen sind, mit der Johanna eröffnet hat. Außerdem
hörte ich, daß Neumann Hofer bei ihm war, um ihn zum finanziellen Theilhaber am
Lessingtheater zu machen. Da sich Langen aber künstlerischen Einfluß sichern
wollte, zerschlugen sich die Verhandlungen. Es muß das vor dem Eintritt des
jungen L’Arronge ins LessingtheaterOtto Neumann-Hofer, offiziell ab dem 1.9.1898 neuer Direktor des Berliner Lessingtheaters [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 254], hatte seine künftigen Mitarbeiter im Frühjahr bereits angeworben: „Als Dramaturg und Regisseur ist, wie schon bekannt, Herr Dr. Hans L’Arronge vom Berliner Theater, der Sohn von Adolf L’Arronge, gewonnen.“ [Das Lessingtheater unter der Direction Otto Neumann-Hofer. In: Berliner Tageblatt, Jg. 27, Nr. 219, 2.5.1898, Montags-Ausgabe, S. (1-2)] Unklar ist, wann die Verhandlungen zwischen ihm und Albert Langen genau stattgefunden haben. gewesen sein. Vorläufig schwärmt er von der
Errichtung eines Chat noir’sLe Chat Noir war ein 1881 gegründetes Cabaret auf dem Montmartre, das zum Inbegriff der Pariser Bohème und der Kabarettkultur des Fin de Siècle wurde., also literarisches Variété, aus dem aber
vermuthlich so bald nichts wird. Offenbar warten verschiedene Leute auf den
Zusammenbruch des Schauspielhauses, der sich aber immer und immer wieder
hinausschiebt.
An meinem Geburtstag, nachdem ich Abendsam 23.7.1898, der Vorabend von Wedekinds 34. Geburtstag am 24.7.1898. zwar schon Ihre
prächtige Kiste ausgepackt und Ihren Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 22.7.1898. Es handelte sich um den Begleitbrief zu einem Geburtstagspaket. und den Ihres Herrn GemahlsHinweis auf einen ebenfalls nicht überlieferten Brief; erschlossenes Korrespondenzstück: Carl Heine an Wedekind, 22.7.1898. gelesen,
fuhr ich nach Tutzing zu meinem Bubi und nahm im Kreise meiner Familie, wenn
ich mich so ausdrücken darf, am Ufer des Starnberger Sees ein stilles
Mittagsmahl ein. Durch dieses mein Verhalten scheint ganz München mit meiner
Existenz ausgesöhnt. Sogar die DirectorinWilhelmine Porges (siehe unten), Gattin von Heinrich Porges, der in München (Burgstraße 12) die Stellung eines königlich bayrischen Musikdirektors bekleidete [vgl. Adreßbuch von München 1899, Teil I, S. 410]. Porges, die Mutter von Ernst Rosmer, bei
der sich das ganze Unheil angesponnenIm Salon von Wilhelmine (Minna) Porges (geb. Merores), Gattin des Dirigenten und Musikschriftstellers Heinrich Porges und Mutter der Schriftstellerin Elsa Bernstein (Ernst Rosmer), lernte Wedekind im Sommer 1896 Frida Strindberg (geb. Uhl) kennen, die von ihrem Mann August Strindberg getrennt lebte und bei ihren Aufenthalten in München bei der befreundeten Dame wohnte (Burgstraße 12, 3. Stock). Wedekind und Frida Strindberg gingen eine problematische Beziehung ein, aus der ein gemeinsames Kind hervorging: Friedrich Strindberg., schickte mir vor ihrer Reise in die
Sommerfrische noch einen Grußnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wilhelmine Porges an Wedekind, 26.7.1898. Es dürfte sich um eine Postkarte gehandelt haben.. Dieser Gruß bedeutet meine allergnädigste
Wiederaufnahme in die Münchner Gesellschaft, von der ich aber so bald keinen
Gebrauch zu machen gedenke.
In Gedanken zehre ich immer noch sehr von den Erinnerungen
an unsere Tournée und meine Leipziger Zeit. Es ist gar keine Frage, daß Ihr
Herr Gemahl zu einem Retter an mir geworden ist, denn jeder Funke Achtung,
den man mir hier entgegenbringt, bezieht sich auf die Campagnezeitlich begrenzter Arbeitsabschnitt, im Fall Wedekinds sein Engagement beim Ibsen-Theater (siehe oben)., die ich hinter
mir habe.
Seien auch Sie, verehrte Frau, bestens bedankt für die
Sympathien, die Sie mir bewahren. Daß wir uns sehr bald wiedersehen, scheint
mir mehr als gewiß, aber nur unter der Bedingung, daß Ihr Werk sich nicht als
fruchtlos erweist, daß sich Ihre Erwartungen bestätigen.
Grüßen Sie Herrn DoctorDr. phil. Carl Heine (siehe oben), Beate Heines Ehemann. herzlich von mir und seien Sie
selber bestens gegrüßt von Ihrem Ihnen ganz ergebenen
Frank Wedekind.
Türkenstraße 69 II
Verzeihen Sie mir bitte den Klex auf der ersten Seite, aber
ich schreibe im Café Luitpold.
[2. Zitat in J. A.
Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]
Als ich das erste Mal bei Langen war kam die Nachricht
daß der Simpl. wieder mal auf allen Bahnhöfen Preußens verboten sei. Er flehte
mich um ein Gedicht an, wozu ich mich auch herbeiließ. Vor drei Tagen schrieb
ich das zweite Gedicht für ihn. Er rieb sich die Hände und sagte, es ist doch
ein Glück daß Sie wieder hier sind. Ob es nicht möglich wäre daß ich hier
bliebe. Ich sagte, ich könne Dr. Heine doch nicht so ohne weiteres im Stich
lassen. Gestern wollte er Contract mit mir machen, aber ich lehnte ab, da ich
ja im Voraus weiß, daß ich ihn nicht halten kann. Der alte Biörnson der
offenbar zu dem Zwecke von ihm engagirt ist machte mir die glühensten
Complimente über meine Gedichte [...]