Kennung: 906

Hannover, 24. März 1898 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Heine, Beate

Inhalt

Hannover, 24.III.1898.


Liebe verehrte FrauBeate Heine (geb. Wüerst), ehemals als Konzertsängerin tätig, seit 1890 verheiratet mit Dr. phil. Carl Heine, in dessen Ibsen-Theater, dem Theater der Literarischen Gesellschaft in Leipzig, Wedekind als Dramaturg und Schauspieler (Pseudonym: Heinrich Kammerer) engagiert war [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 408].,

Gott ist mein Zeugebiblische Redensart [vgl. Römer 1,9]., daß ich seit Beginn unserer TournéeDie Gastspieltournee des von Carl Heine geleiteten Ibsen-Theaters, dessen Mitglied Wedekind war (siehe oben), begann am 5.3.1898 [vgl. Ibsen-Theater. In: Leipziger Tageblatt, Jg. 92, Nr. 113, 4.3.1898, Morgen-Ausgabe, S. 1655] und führte von Leipzig aus bis zum Sommer durch folgende Städte: Braunschweig, Breslau, Halle an der Saale, Hamburg, Hannover, Leipzig, Lübeck, Lüneburg, Magdeburg, Stettin, Wien. noch an keine Seele eine Zeile geschrieben habe, aber ich halte es nicht länger aus, daß Sie denken könnten, ich sei ein frivoler oberflächlicher Mensch, der seine Gefühle nur dann bei der Hand hat, wenn sie den leichten Weg über die Zunge nehmen. Ich danke Ihnen herzlich für Uebersendung der BesprechungBeate Heine hat Wedekind mit Begleitschreiben (siehe unten) einen Zeitungsausschnitt aus dem „Simplicissimus“ geschickt, der am 19.3.1898 zu Werbezwecken (Anzeige: „Vor kurzem erschien: Die Fürstin Russalka von Frank Wedekind“ mit Umschlagabbildung) eine Besprechung aus der Berner Zeitung „Der Bund“ nachdruckte (datiert: „Bern, 4. Juli 1897“), die eine ganze Spalte umfasst und Wedekinds Sammelband „Die Fürstin Russalka“ (1897) lobt: „Zu den mannigfachen Vorzügen des Wedekindschen Talentes gehört auch der, unglaubliche Ungezogenheiten so sagen zu können, daß man sie ihm nicht übel nimmt; sie schlüpfen ihm aus dem Munde, wie die roten Mäuschen der jungen Hexe, mit der Faust in der Walpurgisnacht tanzt. Wo man merkt, daß eine Natur sich wahr und voll und ganz giebt, kann man manches verzeihen [...]. Aber ein arg übermütiges Buch ist es schon [...]. Die novellistischen Skizzen [...] dürfen sehr gelobt werden. [...] Die Gedichte nun [...] übertreffen Heinrich Heine an Zügellosigkeit, aber auch an Ehrlichkeit. [...] daß er [...] so graziöse Formen findet, das ist ein Beweis seines fein entwickelten Talentes.“ [Simplicissimus, Jg. 2, Nr. 51, S. (407)] im Simplizissimus meiner Fürstin Russalka. Ihre freundlichen Wortenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 19.3.1898., die Sie mir dazu geschrieben, finde ich eben in meiner Brieftasche. Ich bin mutterseelen allein und dazu noch in meiner eigentlichen Vaterstadt HannoverWedekind traf wohl noch am 20.3.1898 in seiner Geburtsstadt Hannover ein (am 21.3.1898 war er nachweislich dort).. Die Straßen erscheinen mir sämtlich als alte Bekannte, aber was hilft das, es fehlen die Menschen und in meinem Alter findet man sie nicht mehr, ich hätte beinah gesagt, auf der Straße, aber das ist es garnicht, was ich meine. Ich habe mich übrigens meiner Lebtag nicht leicht angeschlossen und jetzt fehlt mir auch alle Lust dazu. Ueber den Verlauf unserer Tournee werden Sie so gut unterrichtet sein, daß es mir schwer fallen würde, Ihnen eine Neuigkeit zu schreiben. In LübeckIm Rahmen des Gastspiels des Ibsen-Theaters im Wilhelm-Theater in Lübeck fanden zwei Vorstellungen statt, am 17. und 18.3.1898; aufgeführt wurde „Ein Volksfeind“ von Henrik Ibsen. „Im Wilhelm-Theater geht seit einigen Tagen Ibsen’s ‚Volksfeind‘, wohl das kraftvollste und packendste der modernen Dramen […] in Szene. Dargestellt wird dasselbe von einem rühmlichst bekannten Ensemble unter Leitung des Herrn Dr. Carl Heine ‒ Leipzig.“ [Lübecker Volksbote, Jg. 5, Nr. 65, 18.3.1898, S. (4)] genossen wir hauptsächlich Seeluft in Ermangelung einer besseren. Ich erinnere mich noch eines Dämmerabends am Hafen bei sehr starker Brise. Zwischen Ihren Herrn Gemahl und mich war plötzlich etwas getreten, das man ein Gespenst nennen könnte. Es war sein und meine Vergangenheit, die uns abwechselnd mit großen Augen ansah. Die alten hölzernen Schiffe, die seit Menschengedenken dort im Hafen liegen, klapperten mit den Tauen und von den schiefstehenden Thürmen der Stadt her tönte das Glockenspiel so hell, als wollte es dem Gespenst, das mit flatternden Haaren, hohläugig und mit fleischlosen Gliedern zwischen uns langte, das Wort vom Munde nehmen, denn zuweilen sprach es ein solches. Noch am nämlichen Abend reiste ich abWedekind reiste am 20.3.1898 von Lübeck ab. und es wird wol auch das beste gewesen sein. Wie aber ergeht es Ihnen, verehrte Frau. An Vereinsamung werden Sie vermuthlich nicht zu leiden haben, aber es ist ja leider nicht die Quantität, die dem Umgang seinen Reiz verleiht. Was würden Sie da sagen, wenn ich mich nächstens gleichfalls verheiratete. Herr Doctor räth es mirDr. phil. Carl Heine, der als Direktor des Ibsen-Theaters mit Wedekind auf Tournee war, hat seine Ratschläge mündlich erteilt. als bestes Mittel, um meine Verhältnisse zu „saniren“. Aber was hilft aller guter Wille ohne die nöthige Gelegenheit; der Geist ist willigBibelzitat: „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.“ [Matthäus 26,41], aber das Fleisch ist schwach; Viele sind berufenBibelzitat: „Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt.“ [Matthäus 22,14], aber wenige sind auserwählt und der Weg zur HölleSprichwort: „Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.“ [Büchmann 1879, S. 225] ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Alles hat seine ZeitBibelzitat: „Ein jegliches hat seine Zeit“ [AT, Prediger 3,1]., sagt Salomonin der Lutherbibel das alttestamentarische Buch „Der Prediger Salomon“ (kurz: Prediger), auf das sich Wedekind beruft., aber das ist mein Verhängnis in dieser Welt, daß ich keine Zeit habe. Und wenn der Tag sechsunddreißig Stunden hätte, ich glaubt ich würde doch noch keine Zeit zu dem finden, was andere als ihr hauptsächlichstes Talent und ihre hervorragendste Begabung unbewußt mit auf die Welt bringen. Aber ich will nicht länger von mir sprechen. Ich denke zurück an den Beginn des Jahres, als ich von Dresden herüber kamWedekind war bereits gegen Ende des Vorjahres von Dresden nach Leipzig gekommen – zu einer Lesung am 26.11.1897 bei der Literarischen Gesellschaft in Leipzig [vgl. Leipziger Volkszeitung, Jg. 4, Nr. 237, 25.11.1897, S. (4)] – und hatte dort Eingang in den Kreis um Beate und Carl Heine gefunden, der ihn bald an das von ihm geleitete Theater der Literarischen Gesellschaft engagierte (siehe oben), das Ibsen-Theater, das am 25.2.1898 die Tragödie „Der Erdgeist“ uraufführte ‒ die erste Bühneninszenierung eines Wedekind-Stücks überhaupt. und alles erscheint mir wie ein Traum, thatsächlich, denn so glückliche unvorbereitete Umschläge im Geschicke des Menschen sind doch eigentlich nur aus Träumen bekannt. Dafür wünsche ich Ihnen von Herzen und aufrichtig, daß auch Ihre Träume sämmtlich in Erfüllung gehen mögen, obschon Sie sich eigentlich wenig mehr zu erträumen haben können. Sie sind nicht die Herrin ihres Geschickes, Sie sind es schwerlich jemals gewesen, aber es waltet ein guter Engel über Ihnen, den Ihnen der Himmel erhalte. Dem einen kommt es im Traum und dem anderen mißlingt es bei vollem Bewußtsein; darin liegt weiter kein Widerspruch. Am 11.am 11.4.1898, an dem Wedekind als Mitglied des Ibsen-Theaters in Hamburg eintraf ‒ das Ensemble-Gastspiel begann Hamburger Pressemitteilungen zufolge noch an diesem Tag (Ostermontag) am Carl Schultze-Theater nachmittags mit „Der Volksfeind“ und abends mit „Hedda Gabler“; am 12.4.1898 wurde „Rosmersholm“ gespielt, am 13.4.1898 „Die Frau vom Meer“, am 14.4.1898 wurde „Hedda Gabler“ wiederholt und zum Abschluss des Gastspiels wurde am 15.4.1898 Wedekinds Tragödie „Der Erdgeist“ gespielt; das Ensemble des Ibsen-Theaters trat außerdem am 17.4.1898 veranstaltet vom Verein Freie Volksbühne Hamburg-Altona nachmittags im Ernst Drucker-Theater mit „Hedda Gabler“ auf. sind wir in Hamburg. Es fließt viel Wasser den Fluß hinabsprichwörtliche Redewendung für: das wird noch lange dauern., aber die Felsen halten Jahrtausende aus und auch die Weiden senken sich nicht, obwohl ihre Blätter im Strudel treiben. Auf baldiges frohes Wiedersehen. Ihr Ihnen ganz ergebener
Frank Wedekind.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck überliefert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Hannover
    24. März 1898 (Donnerstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Hannover
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Leipzig
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
299-301
Briefnummer:
137
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Beate Heine, 24.3.1898. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

19.03.2024 15:03