Lieber Bebie!
Dein Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Donald Wedekind, 15.3.1894.
erreichte mich in BordigheraDonald Wedekind hielt sich seit Mitte März bis Ende April in Mailand und an der italienischen Riviera auf.. Er wurde mir von Zürich aus nachgeschickt. Wenn
ich nicht irre, so sandte ich dir dann eine kurze Postkartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Donald Wedekind an Frank Wedekind, 19.3.1894. nach London von San
Remo aus.
Ich empfand
wirklich großes Vergnügen von dir ein Lebenszeichen zu bekommen und namentlich
aus deinem Brief zu erkennen daß du dich doch nach und nach eingewöhnt hast in
England. Daß es die traurigste Race(engl.) Menschenschlag. der Welt ist, weiß ich wahrscheinlich
ebenso gut wie du ich habe gerade auf dieser Rivierareise wieder einige |
Erfahrungen davon gesammelt.
Nun das weitere.
Ich steuerte von Mailand nach Genua und machte die Bekanntschaft einer
reizenden Italienerin,
die ich sofort gedachte mit zu nehmen, einstweilen aber noch zurückließ, weil
ich ja die Wohnverhältnisse in Bordighera nicht kannte. Als ich aber von einem
dortigen Curarztnicht identifiziert. in einer Villa ganz wie mein eigener Herr ohne weitere
Mitmieter einlogirt wurde und der betreffende Arzt nach Rom reiste um dem
Congreßder 11. internationale medizinische Kongress vom 29.3.1894 bis 5.4.1894 in Rom. beizuwohnen, da ließ ich meine Ninonicht näher identifiziert. nachkommen und wir erfreuten
Mentone, | Monte Carlo, San Remo und Ospedaletti mit unsren täglichen
Ausflügen. Dann kehrten wir nach Genua zurück, von wo
eine unangenehme Szene mit ihrem Bräutigamnicht identifiziert. mich vertrieb und jetzt, wo ich
wieder in Zürich bin, könnte ich mich fast aufhängen vor Sehnsucht nach der
Kleinen. –
Soweit meine
Reise. Ich spielte auch und gewann 150. frs und sah Max Halbe zweimal mit seinen Koffern in den
Bahnhöfen der Riviera herum keuchen. In Lugano machte ich eine Station von
wenigen Tagen um mich nach und nach Italiens zu entwöhnen. Jetzt bin ich wieder
hier und werde das Semester vollenden. Was dann geschieht weiß ich nicht. |
Mama traf ich
in einem sehr schlechten Gesundheitszustand an, man fürchtet es könnte der
Magenkrep/b/s sein. Sie sieht aus, als ob sie nie mehr gesund werden
könnte.
Mieze bekommt
ausgezeichnete KritikenErika Wedekind war seit dem 1.4.1894 an der Hofoper Dresden engagiert. Über ihre Auftritte berichtetet die Presse: „Die Königl. Hofoper brachte vorgestern unter Generalmusikdirektor Schuch eine flotte und zündend wirkende Aufführung von Donizetti’s ‚Regimentstochter‘ […]. Die Titelpartie sang zum ersten Male Frl. Wedekind unter gleich glücklichem Gelingen und unter gleicher lebhafter Anerkennung wie vor Kurzem die Rolle der Frau Fluth. Die überaus dankbare und gefällige Partie der Marie ist Frl. Wedekind bereits völlig in Fleisch und Blut übergegangen und von Frl. Orgeni mit Cadenzen und Verzierungen versehen worden, die Frl. Wedekind’s Mitteln ausgezeichnet liegen. Die allerdings zarte, aber klangschöne Stimme der jugendlichen Sängerin beherrscht die Partie vollkommen und erzielte einen besonderen Erfolg mit der Einlage des Nachtigallenliedes von Alabieff, das eine ausgezeichnete Aufführung erfuhr.“ [Dresdner Nachrichten, Jg. 39, Nr. 99, 9.4.1894, S. (2)]. Henckell freute sich sehr über das Telegrammnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Karl Henckell, 17.4.1894. Das Telegramm schickte Wedekind wahrscheinlich zum 30. Geburtstag Karl Henckells., das aber
jedenfalls defeck/t/ hier angekommen ist, indem dessen Sinn niemand
herausbrachte.
Herr Bölsche
sagte mir ich solle dir die Adresse von Herrn Bernhard Kampfmeier mitteilen,
sie (nämlich ebendieser Herr, welcher der Bruder von August KampfmeierDie Brüder von Bernhard Kampffmeyer hießen Paul, Theodor und Otto, seine Schwestern Auguste und Anna; gemeint ist hier wahrscheinlich der Publizist Paul Kampffmeyer, ein Bekannter Frank Wedekinds [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 6.3.1894]. ist und
| Bölsches Frau) sind während der Zeit der Anarchistenverweisungen von ParisNach einem Anschlag auf die französische Nationalversammlung am 9.12.1893 durch den Anarchisten Auguste Vaillant verabschiedete das französische Parlament eine Reihe von Notstandsgesetzen (sog. ‚lois scélérates‘), die zur Einschränkung der Pressefreiheit, zahlreichen Verhaftungen und zu Ausweisungen von Ausländern führten, die der Sympathien für den Anarchismus verdächtigt wurden.
geflohen und haben sich in London niedergelassen. Ich teile dir die Adresse am
Ende des Briefes mit und d/H/err Bölsche
meint, sie würden sich sehr freuen, dich zu sehen, denn sie hätten großen
Langeweile in England.
Zur näheren
Orientierung mag dir dienen, zu wissen, daß die EntführungNachdem Wilhelm Bölsche in Friedrichshagen das Verhältnis zwischen seiner Frau Adele Bölsche (geb. Bertelt) und Bernhard Kampffmeyer entdeckt hatte, reisten beide zunächst nach Paris und dann nach London, wo sie am 22.12.1893 eintrafen [vgl. Christoph Knüppel: „In eine abschreckend katholische Gegend sind wir hier geraten“. Der deutsch-jüdische Schriftsteller und Anarchist Gustav Landauer in Bregenz. In: Jahrbuch des Franz-Michael-Felder-Archivs der Vorarlberger Landesbibliothek, Jg. 10 (2009), S. 43]. Wilhelm Bölsche ließ sich vorübergehend in Zürich nieder [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 6.3.1894]. Am 5.3.1897 heirateten die inzwischen geschiedene Adele Bölsche und Bernhard Kampffmeyer in Berlin-Wilmersdorf. in ganz friedlicher
Weise vor sich gieng und das Liebespaar sogar von Paris aus den | enttrohnten
Gatten in Zürich besuchte.
Es freut mich
sehr, daß du so tätig bist, ausSchreibversehen, statt: auf. das neue Stückdie Monstretragödie „Die Büchse der Pandora“ (1894), deren fünften Akt Wedekind während seines Aufenthaltes in London fertigstellte [vgl. KSA 3/II, S. 833]. bin ich gespannt. Könnte ich nur auch arbeiten aber ich bin so
faul und dann läßt mich die Angst vor der Lebensnot gar nicht zur Ruhe kommen.
Ich werde hier
in Zürich immer gefragt, ob du noch diesen Sommer herkommst. Das wäre ja
eigentlich sehr gut und bei dem schlimmen Zustand Mamas ganz natürlich. Ich
werde jedenfalls gleich nach | Schluß des Semesters irgendwo an einen Platz
gehen, wie Herthensteinvermutlich das landschaftlich schön gelegene Hertenstein am Vierwaldstättersee im Kanton Luzern; möglich ist aber auch Hertenstein in Obersiggenthal bei Baden im Aargau; in Baden nimmt Donald Wedekind 1906 vorübergehend seinen Wohnsitz., denn es ist nicht teurer, als anderswo und dabei doch
so wunderschön.
Verzeihe die
schlechte Schreibart. Ich habe im Augenblick schon einen andern Brief im Kopf.
Schreibe bald und sei herzlich gegrüßt von deinem treuen Bruder
Donald Wedekind
Zürich d. 28 April 1894
Bernard Kampfmeier
36 Alma Square N. W.
Wellington Road
London.