Kennung: 89

Zürich, 6. März 1894 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Donald (Doda)

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Lieber Bebi.

Mit großem Vergnügen habe ich gehörtvermutlich von Armin Wedekind, dem Frank Wedekind seine Klagen über London geschickt hatte [vgl. Frank Wedekind an Armin Wedekind, 14.2.1894]. daß du endlich einmal in London eingetroffenFrank Wedekind traf am 24.1.1894 in London ein [vgl. Tb]., mit großem Bedauern dagegen, daß es dir dort nicht gefällt. Immerhin glaube ich daß es der beste Platz ist um den Winter zurückgezogen arbeiten zu können.

Die verschiedenen Hartlebenschen BierkartenGruppenpostkarten unbestimmter Anzahl, teilweise auch von Donald Wedekind unterschrieben [vgl. Otto Erich Hartleben, Selma Hartleben, Carl Seelig, Elias Tomarkin und Donald Wedekind an Frank Wedekind, 20.12.1893]. werden dich so einen kleinen Einblick haben gewinnen lassen wie das Zürcher Leben constituirt ist. Die Gesellschaft, und zwar die gute, literarische meine ich, wartet eben und lauert, bis jemand von Außen her kommt und dann wird er so viel wie möglich ausgebeutet. Dabei habe auch ich redlich mitgemacht, aber es ist mir jetzt schon recht zu wider und ich bleibe nur noch für die wenigen Sommersemester hier und dannSchreibversehen, statt: um dann. schon im Hochsommer die Stadt und die Gesellschaft zu verlassen und mich einer hübschen Frische und nachher irgend einem | andern großen Platz zuzuwenden. Schreibe mir, wie die Verhältnisse im/n/ Berlin b/s/ind und ob ich dort wohl als immatriculirter Student geduldet werdeFrank Wedekind war bei seinem Aufenthalt in Berlin fünf Jahre zuvor aufgrund fehlender Papiere, die seine Staatsangehörigkeit belegen konnten, ausgewiesen worden [vgl. Frank Wedekind an Armin Wedekind, 17.6.1889]..

Hartleben erfreute und/s/ mit seiner Frau, dem etwas mehr als nur abgerissenen KnopfAnspielung auf Otto Erich Hartlebens Erzählung „Die Geschichte vom abgerissenen Knopfe“ (Berlin: S. Fischer 1893; zuerst in: Freie Bühne für modernes Leben, Jg. 2, Nr. 49-51, Dezember 1891, S. 1204-1208, 1228-1233, 1255-1259), in der ein nicht wieder angenähter Knopf dem Protagonisten zum Indikator für die charakterlichen Defizite seiner Bekannten wird. Donald Wedekind diente der Hinweis auf die Erzählung wohl dazu, auf die soziale Herkunft Selma Hesses hinzuweisen, die als Kellnerin gearbeitet hatte. Otto Erich Hartleben hat sie am 2.12.1893 geheiratet. (sie wäh/r/e schon eher zu vergleichen einem Unterhosenknopf den man auf einen neuen Paletot gesetzt) durch einen längeren Aufenthalt vor Weihnachten. Das Geld floß in StrömenOtto Erich Hartleben hatte von seinem am 17.10.1893 verstorbenen Großvater 80.000 Mark geerbt [vgl. Otto Erich Hartleben: Briefe an seine Frau. 1887 – 1905. Hg. und eingeleitet von Franz Ferdinand Heitmüller. Berlin 1908, S. 180-182]. aus seiner Tasche und nach der Auffassung T/s/einer Bekannten wird er nicht wieder die Feder berühren, bis der letzte Centime d/s/einen Fingern entflohen. Nicht daß er hypersplendidübermäßig freigebig. gewesen wäre, aber er warf es so auf richtige klein Jungensart zum Fenster hinaus. Plötzlich nach einem heitern Abend bra im Café National brachen die beiden auf und verloren sich nach Italien und AfrikaOtto Erich Hartleben befand sich seit Mitte Dezember 1893 mit seiner Frau Selma Hartleben (geb. Hesse) auf Hochzeitsreise und fuhr, wie seine Korrespondenz aus dieser Zeit belegt [vgl. Heitmüller 1912, S. 193-204], von Zürich nach Mailand, Florenz, Rom und Sizilien und von dort nach Sousse in Tunesien, wo er Anfang März 1894 eintraf., von wo dann und wann Bierkartennachrichten kommen.

Sie wurden ersetzt durch John Henry und Wilhelm Bölsche, dem ehemaligen RedakteurWilhelm Bölsche war seit der Gründung (Heft 1 erschien am 29.1.1890) bis Heft 9 des 3. Jahrgangs (September 1893) verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift „Freie Bühne“ (1890/91 herausgegeben von Otto Brahm unter dem Titel „Freie Bühne für modernes Leben“ als Wochenschrift, ab 1892/93 „Freie Bühne für den Entwickelungskampf der Zeit“ als Monatsschrift, seit 1894 unter dem Titel „Neue Deutsche Rundschau“), erschienen im S. Fischer Verlag in Berlin. der freien Bühne, der eine freiere Beschäftigung am Hausschatz des WissensIn der populärwissenschaftlichen Schriftenreihe „Hausschatz des Wissens“ (1892 bis 1906 im Verlag Julius Neumann in Neudamm erschienen in 11 Abteilungen in 17 Bänden) war Wilhelm Bölsche in der Abteilung I mit seiner zweibändigen Schrift „Entwickelungsgeschichte der Natur“ (1894) vertreten. erhalten und so | seinere freiere Bewegung dazu benutzte um nach Zürich überzusiedeln. Der Urgrund dieser Veränderung bestand aber darin, daß seine FrauDie Lehrerin Adele Bertelt hatte am 5.7.1890 Wilhelm Bölsche in Berlin geheiratet und lebte mit ihm in Friedrichshagen. Die Ehe wurde am 17.6.1896 wieder geschieden. Am 5.3.1897 heiratete sie Bernhard Kampffmeyer. mit einem Herrn KampfmeyerDer sozialistisch-anarchistische Publizist Bernhard Kampffmeyer, Mitglied des Friedrichshagener Dichterkreises; das gemeinsam mit seinem Bruder Paul Kampffmeyer bewohnte Haus in Friedrichshagen (Ahornallee 19) war ein wichtiger Treffpunkt des Dichterkreises., dem Bruder dessenPaul Kampffmeyer hatte von 1887 bis 1889 in Zürich Philosophie und Nationalökonomie studiert [vgl. Matrikeledition der Universität Zürich, Matrikelnummer 7802. Online: https://www.matrikel.uzh.ch/active/static/11068.htm]., den du schon einmal im Pfauen kennen gelernt hast, nach al einer langen philosophischen Auseinandersetzungironisch für das von Wilhelm Bölsche entdeckte Verhältnis seiner Frau mit Bernhard Kampffmeyer., nach Paris gereist war und der Philosoph Bölsche doch nicht der starke Mann war, um den Schlag in Berlin unter seinen Bekannten tragen zu können und so kam er dann unter der Obhut des Bruders des Verführers, eben jenem schon erwähnten Herrn Kampfmeyer nach Zürich, hoffte hier auf Zerstreuung und war natürlich sehr enttäuscht. Sein Hüter reiste bald wieder zurück, Bölsche nahm sich eine teure WohnungWilhelm Bölsche wohnte in Zürich-Enge in der Seewartstraße 12 links, wie aus Wilhelm Bölsches Korrespondenz des Jahres 1893 mit Ernst Haeckel hervorgeht [vgl. Breidbach/Bach 2013]. und suchte Trost bei der Kellnerin in der Mainaunicht identifiziert; das Café Mainau war ein Gartenlokal im Zürcher Stadtteil Riesbach (Seefeldstraße)..

Ihm zur Seite steht Makay, dessen Manusscripte Koffer in ChicagoJohn Henry Mackay hatte im Herbst 1893 eine dreimonatige USA-Reise unternommen. entwendet worden ist und der ebenfals/l/s hier wenig Trost fand und so wieder nach | Berlin zurückkehrte. Gekrönt wurden diese Besuche durch den fliegenden Aufenthalt Gerhard HauptmannsGerhart Hauptmann reiste wegen der Ehekrise, zu der sein Verhältnis mit Margarete Marschalk geführt hat (später seine zweite Ehefrau), im Dezember 1893 nach Zürich und verbrachte die Weihnachtstage dort. Ende Januar folgte er seiner Frau Marie Hauptmann (geb. Thienemann) und den Kindern nach Amerika, die sich überraschend dorthin eingeschifft hatten. Anfang Mai 1894 kehrte die Familie zurück nach Deutschland [vgl. Leppmann 1989, S. 178-190]., der aber nur selten und nur durch Begünstigung Thomars zu sehen war und plötzlich wieder verschwand um, wie später bekannt wurde, nach Amerika überzusiedeln. Auch Max Halbe schnatterte die letzten Tage einige Abende in der blauen Fahne und im Schwertkeller herum, er verpaßte die Aufführung seiner Jugend in BernMax Halbes Liebesdrama „Jugend“ (1893), seit der Uraufführung am 23.4.1893 im Berliner Residenztheater berühmt, wurde in Bern erstmals im Rahmen des Sommertheaters im Schänzli-Theater am 26.6.1894 gespielt [vgl. Der Bund, Jg. 45, Nr. 175, 26.6.1894, 2. Blatt, S. (3)]; die in Aussicht genommene Aufführung am Stadttheater in Bern war nicht zustande gekommen [vgl. Der Bund, Jg. 45, Nr. 67, 8./9.3.1894, 1. Blatt, S. (3)]. In Zürich war „Jugend“ im April 1894 am Pfauentheater gespielt worden [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 115, Nr. 116, 27.4.1894, Morgenblatt. S. (1)]. und befand sich nach seiner eigenen Aussage und trotz seiner hübschen jungen Fraudie inzwischen 26jährige Luise Halbe (geb. Heck), seit 1890 mit Max Halbe verheiratet., die er in Berlin zurückgelassen, auf einer internationalen Bordellreise. Jetzt ist er in NerviVorort von Genua. in Genua, wo ich und Bölsche ihn vielleicht besuchen, jedoch ist das Projekt noch sehr unbestimmt. Später will er sich in Kreuzlingen am Bodensee ansiedeln.

Henckell traf in den letzten Tagen ein, nach den Gerüchten heiter, aufgelegt, mit/von/ dem Brüsseler Geist und FeuerWährend eines Aufenthalts in Brüssel hatte Karl Henckell seine Lyrik-Anthologie „Buch der Freiheit“ (siehe unten) fertiggestellt. In dem autobiographischen Gedicht „Albumvers“ schrieb er kurz darauf: „In Brüssel, das war eine herrliche Zeit, / Die brachte mir Leben und Lieder, / Die hat mich von Wolken und Kummer befreit / Und wob mir eine schimmernd Gefieder. // Ich habe gesehn und in Muße gedacht, / Aufsprühten melodische Funken, / Ich habe so sonnenfröhlich gelacht, / Das ‚Buch der Freiheit‘ fertig gemacht / Und mit Euch Fleur Bouzy getrunken. // Der Vogel schwebt weiter, der Vogel fliegt fort, / Nach Deutschland, nach Zürich zurücke, / In seinem Herzen nachzittert ein Wort / Und ein Lied von lebendigem Glücke…“ [Karl Henckell: Zwischenspiel. Zürich 1894, S. 129f]. nur so sprühend,. Die Wirklichkeit brachte aber nur den stummen | Gast wieder, versehen mit einem neuen Sammetanzug von Banquier BarthelsTeilhaber an dem 1742 gegründeten Bankhaus Hermann Bartels (Osterstraße 82) [Adreßbuch der Königlichen Haupt- und Residenzstadt Hannover 1894, Abt. I, S. 923] in Hannover waren Karl Bartels (Schiffgraben 39), Georg Bartels und Otto Bartels (beide Königstraße 34) [ebd., S. 449f.]. in Hannover. Sein Buch der FreiheitKarl Henckells Lyrik-Anthologie „Buch der Freiheit“ mit Freiheitslyrik von Goethe bis zu der des Verfassers ist im Dezember 1893 im Verlag der Expedition des „Vorwärts“ Berliner Volksblatt erschienen; das Buch ist „den Hand- und Kopfarbeitern deutscher Zuge“ gewidmet mit Dank „für ihre liebenswürdige Mithülfe […] namentlich den Herrn Reinhold Rüegg, Elias Tomarkin und Leopold Jacoby in Zürich“ [S. V-VI], in der sozialistischen Presse bereits vorab vielfach beworben: „Diese Sammlung der gedankenreichsten und formschönsten deutschen Freiheits-Lieder von Goethe bis auf die Dichter des jüngsten Deutschland hat ihren politischen und literarischen Werth in der Person des Herausgebers verbürgt, der als Dichter wie als Freiheitssänger in der Deutschen Arbeiterwelt seit langem und bestens bekannt ist. – Das ‚Buch der Freiheit‘ sollte jeder Genosse erwerben, dessen Herz für Freiheit und Schönheit schlägt. Für die kommende Festzeit kann es kein schöneres und passenderes Festgeschenk geben“ [Vorwärts, Jg. 10, Nr. 279, 28.11.1893, S. (4)]. macht viel von sich reden und sein Neuestesder Band „Zwischenspiel“ (1894); eine Widmung an Elias Tomarkin findet sich dort nicht. soll Thomar gewidmet sein.

Thomar, der sich nach und nach immer energischer zum ExamenpräparatorElias Tomarkin aus Königsberg hatte sich erstmals zum Wintersemester 1885/86 als Medizinstudent in Zürich immatrikuliert und seine Immatrikulation zum Wintersemester 1890/91 sowie zum Sommersemester 1896 jeweils erneuert, bis er die Universität am 20.11.1896 schließlich mit eine Abgangszeugnis verließ [vgl. Matrikeledition der Universität Zürich, Matrikelnummer 7440, 9122 und 11218. Online: https://www.matrikel.uzh.ch/active/static/22103.htm] ausbildet, verliert auf der andern Seite an seiner sonstigen liebenswürdigen Gesellschaftlichkeit, indem er dahinter gekommen zu sein glaubt, er, werde von gewissen Leuten nicht genug gewürdigt und so die beleidigte oder gekränkte Leberwurst spielt, namentlich Schwann und Blei gegenüber, denen er eine richtige Unverschämtheit zu sagen nicht den Mut hat. So bleibt das Verhältniß gespannt und schlägt nicht zu Gunsten To/h/omars aus.

Die Concentration dieser ganzen Gesellschaft findet statt jeden Ab Montagabend beim Kegeln in der Mainau, wobei das Kegeln Nebensache, das sich Langweilen die Hauptsache | ist und neben tüchtiger Leute wie Jacoby, den Gebrüdern Langdie beiden Züricher Anwälte Otto Lang (Zelgstraße 33) und Richard Lang (Schützengasse 1) [vgl. Adreßbuch der Stadt Zürich 1895, Teil I, S. 268]. Otto Lang war Mitbegründer der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz. Die beiden Brüder führten bis Ende 1895 gemeinsam eine Anwaltskanzlei (Schützengasse 1) [vgl. Adreßbuch der Stadt Zürich 1895, Teil II, S. 537]., Bock, auch höchst eckle Individuen erscheinen, Studenten die sich mit Socialdemokratie mästen, und sich in Debatten die Kehle heiserschreien, immerhin sind sie nur wenige und seltene Besucher, auch ist man durchaus durch keine Verpflichtung gebunden, sondern kommt eben, oder kommt nicht, ganz nach Belieben.

Und nun noch etwas weniges was meine Geschäfte anbelangt. Für die Zusendung des Manuscriptesvon Donald Wedekind Berichts über seine Amerikareise 1889 nach Kalifornien (siehe die vorangegangene Korrespondenz mit seinem Bruder Frank). Der Text ist in mehreren Teilen unter dem Titel „Eine Auswandererfahrt“ in der Beilage der „Züricher Post“ [Nr. 29 vom 4.2.1894, Nr. 36 vom 13.2.1894, Nr. 41 vom 18.2.1894, Nr. 47 vom 25.2.1894 und Nr. 53 vom 4.3.1894] erschienen. meinen herzlichsten Dank, ebenfalls für die Correctur, die du in so trefflicher Weise vorgenommen hast. Ich veröffentlichte die Sache, so weit die Correctur reichte, in der Zürcher Post und erntete viel Lob, immerhin fällt von demselben 90 % auf dich ab, da die LiebesgeschichteIn Abschnitt III [vgl. Beilage der „Züricher Post“, Nr. 41, 18.2.1894, S. (1)] seiner Artikelserie „Eine Auswandererfahrt“ schilderte Donald Wedekind die Wiederbegegnung mit seiner Cousine Tilly Kammerer in New York mit einer Kuss-Szene. allgemein reizend gefunden wurde, die ja doch ganz deine Mache ist. Aber auch meine, kleinen Witze blieben nicht unbemerkt. | Das andereWelche weiteren Manuskripte Donald Wedekind seinem Bruder zur Korrektur zugesandt hatte, ist nicht bekannt. 1895 erschien bei Hugo Steinitz in Berlin seine erste Novellensammlung unter dem Titel „Das rote Röckchen“, deren Texte zuvor vermutlich in Zeitungen und Zeitschriften erschienen waren. Eine Fortsetzung seines Reiseberichts ist nicht belegt. werde ich suchen sobald wie möglich umzuarbeiten und in Form von drei oder vier Skizzen irgendwo unterzubringen. Dabei bmöchte ich dich bitten einmal unter deinen Papieren nachzusehen, ob du nicht d/n/och eine Copie meiner TeufelsbrückeDonald Wedekinds Erzählung „Der Gang nach der Teufelsbrücke“ ist am 28. und 29.5.1889 in der Berner Zeitung „Der Bund“ erschienen. findest, wäre das der Fall, so schicke sie mir doch bitte zu. Was meine übrige Carriere anbelangt, so bin ich noch so ratlos wie vorher und eines ist sicher, wenn sich mir die geringste Gelegenheit bietet ins praktische Leben einzutreten, so werde ich es sofort tun, denn diese ewige Bankrutscherei und Schulhockerei ist mir nachgerade zu wider. Wenn ich sogar nach Californien reisen müßte ich würde es nicht scheuen, aber nicht ohne r/R/uf. Auch wenn dir vielleicht mal irgend eine speculative Idee einfällt, teile sie mir mit, ich werde mit Händen und Füßen darnach greifen. Mit diesem Brief sende ich dir auch die Nummern der Zürcher Post zur Einsicht. Wenn du dich an deren Anblick genügend erfreut hast | so sende sie mir wieder zurück, da ich außer diesen nur noch eine vollständiges Exemplarserie habe oder bewahre sie zum wenigsten sorgfältig auf, da man vielleichSchreibversehen, statt: vielleicht. noch Gebrauch davon machen kann. Von dem UnglücksfallEmilie Wedekind war Anfang Februar 1894 erkrankt, Emilie (Mati) Wedekind war daraufhin nach Lenzburg gekommen und berichtete ihrem Bruder Achim in Briefen regelmäßig über den Gesundheitszustand der Mutter, so am 10.2.1894: „Sie fühlt sich sehr schwach und müde in den Gliedmaßen und dieß besonders Mittags beim Aufstehen. […] Das Zittern ist immer noch da und die allgemeine Schwäche hat eher noch zugenommen.“ [AfM Zürich PN 169,5:068] Am 15.2.1894: „Heute ist sie furchtbar schwach. Das Mittagessen: Eine doppelte bouillon (wie Du sie verschrieben) etwas Sauerkohl, Kartoffeln und Schweinefleisch, mit einem Glas Rothwein brach sie gleich nachdem sie aufgestanden war. […] Mama spukt sehr viel Schleim und hatte Gestern einen Ausschlag am linken Unterarm […] Mama selbst sagt daß sie jeden Tag sich schwächer fühlt.“ [AfM Zürich PN 169,5:069] Am 20.2.1894: „Auch mußte sie heute nach dem 2. Frühstück bestehend aus: Häring, Ei, Brod und etwas Wein wieder brechen. aber heute Nachmittag befand sie sich entschieden viel besser. Mit der Schwäche ist es immer noch gleich, der Schlaf jedoch hat sich verbessert.“ [AfM Zürich PN 169,5:070] Am 21.2.1894: „Mama ist heute elender, als in den letzten Tagen. Sie hat heute alles was sie aß erbrochen. […] Dabei ist sie sehr schwach und sieht viel elender aus als gestern.“ [AfM Zürich PN 169,5:071] Am 8.3.1894: „Sie kann die Arznei nicht nehmen ohne gleich darauf zu brechen. Auch bricht sie jetzt auch wieder was sie mit Mühe ißt oder trinkt.“ [AfM Zürich PN 169,5:072] Und am 28.3.1894: „Mama’s Zustand ist immer gleich. […] Gestern hat sie fast alles gebrochen, heute weniger. Heute Vormittag war sie furchtbar unruhig obwohl sie nur 36,5 Temperatur hatte. Bis heute Abend ist dieselbe auf 36,7 gestiegen. Heute beim Aufstehen war sie wieder furchtbar elend.“ [AfM Zürich PN 169,5:073], denSchreibversehen, statt: der. Mama betroffen hat, wirst du gehört haben. Es lasten aber mehr die Tributationen WillysWilliam Wedekind hatte im Zuge seiner Auswanderung nach Südafrika die Auszahlung seines Erbteils gefordert, wie Emilie Wedekind in ihrem Notizbuch am 8.1.1891 vermerkte: „Brief von Willy der einem Advokaten Auftrag gab gerichtlich seine Gelder aus dem Schloß zu ziehen.“ [Mü, L 3476/44] und ihre sonstige betrübliche Lage auf ihr, als die Krankheit. Auch Henkells Mutter ist schwer krank. Miezes ContractabschlußErika Wedekind, die auch nach ihrer Prüfung am Dresdner Konservatorium im Frühjahr 1893 dort ihre Ausbildung als Sängerin fortsetzte, schloss im Herbst 1893 einen Vertrag mit dem Hoftheater Kassel ab und sollte ihr Engagement im Frühjahr 1894 beginnen, wurde jedoch vorher in Dresden nach ihrem Debüt in Otto Nicolais Oper „Die lustigen Weiber von Windsor“ zur Königlich-Sächsischen Hofopernsängerin ernannt und dort verpflichtet [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 317]. ist noch von einigen Gastspielen abhängig, die nach meiner Berechnung in nächster Zeit vor sich gehen müssen. Mama und Mati haben die Intention, im günstigen Falle nach Cassel überzusiedeln. Hami hat offenbar seinen Auswandererplan, an dem er vor Neujahr immer noch laborirte, ganz aufgegeben.

Schreibe mir vielleicht in deinem nächsten Briefe auch etwas über deine Pläne, fingire irgendetwas, denn ich werde immer so mit Fragen bestürmt, daß ich im/ge/rne etwas antworte und gerne den Mund etwas | voller nehmen möchte, als meine Verlegenheit, in welche mich die vollständige UnkennttnißSchreibversehen, statt: Unkenntniß. bringt, zu läßt. Es ist ja doch auch schließlich eine Art Reklame, von dem zu sprechen, was man einstweilen nur vorhat zu tun.

Ich hoff sicher daß wir uns diesen Sommer irgendwo treffen. und daß sich dann unsrer beider Pläne etwas fixirt haben, denn ich glaube es ist doch besser wir probiren einmal die Menschheit unterzukriegen, als nachlässig auf Alles zu verzichten. Meine Adresse ist immer noch dieselbe Tannenstrasse No 1. Ich habe ein wunderschönes Zimmer mit einem feeh/n/haften Ausblick über die ganze Landschaft. Es ist ein Heim, mit dem ich mich für mein ganzes Leben zufrieden geben möchte, sollte es mir nur gewährt sein | immer so zu leben. Schreibe mir bald und vergießSchreibversehen, statt: vergiß. keinen der eiz/n/zelnen Punkte. Ich gebe dir am Fuße des Briefes noch eine Adresse eines Mädchensnicht identifiziert; Donald Wedekind hat versäumt, die Adresse zu notieren., das ich in Genf kannte. Sie ist Diakonissin und bietet an und für sich nichts Außerordentliches, aber vielleicht hat sie selber bessere Bekanntschaften, als sie selber ist.

Sie ist studirte Krankenwärterin, will as(engl.) als; oder Schreibversehen, statt: als. Lady behandelt sein, im Übrigen für mich wenigstens zu Allem bereit. Ich mache dich aber darauf aufmerksam, daß ich ihr einer Bitte um Geld von London aus, die das Mädchen an mich stellte, nicht entsprach, weil ich sicher wußte, daß sie nicht von harter Not gedrückt wird, sondern nur irgend welche Laune im Kopf hatte. Vielleicht ist sie auch durch die betreffende Adresse nicht mehr zu erreichen, weil | sie sehr viellei reist. Versuche es oder nicht, je nach deinem Gutdünken, es ist ja schließlich nur der Unterhaltung willen. Und nun leb wohl, schreibe bald und empfange die herzlichsten Grüße von deinem immer treuen Bruder
Donald Wedekind


Zürich d. 6. März 1894.


P. S. Im Übrigen wisse, daß sie echte Londonerin ist und die ganze Stadt kennt.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 6 Blatt, davon 11 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 11,5 x 18 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Donald Wedekind hat zunächst die Außenseiten der Doppelblätter, dann die Innenseiten beschrieben. Am oberen Seitenrand hat er die Seiten nummeriert (hier nicht wiedergegeben). Die Seite 10 hat er beim Beschreiben ausgelassen.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Zürich
    6. März 1894 (Dienstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Zürich
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    London
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 304
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Donald (Doda) Wedekind an Frank Wedekind, 6.3.1894. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

02.04.2024 13:49