Zürich d. 12. Dez. 1893
Lieber Bebi!
Ich weiß nicht ob
du meinen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Donald Wedekind an Frank Wedekind, 12.9.1893. von 3 Monaten her empfangen hast oder nicht. Sei dem wie es
wolle, so vernimm daß der Hauptinhalt war die Äußerung meines Wunsches, meine
SkizzeDonald Wedekinds Bericht über seine Amerikareise, deren Kapitel Frank Wedekind korrigierte., die noch in deinen Händen ist, so weit sie dir fähig für eine Zeitung ist erscheint, zu corrigiren, so du aber keine Zeit hast oder sie dir
nicht lebensfähig vorkommt, sie mir sofort zurückzusenden, damit ich sie
selber, so weit es mir gut scheint, verwerte. Ich glaube sicher, daß sie
anzubringen ist bis zu auf das Ende, was etwas zu romantisch ist, was
aber noch nicht in deinen Händen istich befindet. Zudem wünschteSchreibversehen (Auslassung beim Seitenwechsel), statt: wünschte ich.
| daß, wenn du aus diesem oder jenem Grunde die Sache durchaus nochnicht
schicken könntest oder wolltest, du mir wenigstens einige Zeilen schreibst wie
es dir geht und wo du bist. Es giebt ja allerdings Zustände, in denen man am liebsten gar keine
Nachrichten empfängt noch giebt, aber ich hoffe, daß es noch nicht dein Fall
ist und dann könntest du doch vielleicht mich, mich allein in’s Vertrauen ziehen.
Ich kann schweigen.
Es läuft nämlich
über dich das Gerücht, du seist in Basel. Mieze, welche vor 3 Wochen hier oder
vielmehr in Dresden Lenzburg war, behauptete, ein Bekannter von ihr hätte dich
gesehen. Wäre das nun wahr, so brauchtest du davon mir gar kein Geheimniß zu
machen, weil ich ja doch so in der Nähe bin und wir uns mit Leichtigkeit sehen
könnten und uns so beide den Aufenthalt in den | langweiligen Städten angenehm
machen könnten. Mieze hat, wie dir wahrscheinlich schon bekannt ist, ein
Engagement nach CasselErika Wedekind, die auch nach ihrer Prüfung am Dresdner Konservatorium im Frühjahr 1893 ihre Ausbildung als Sängerin dort fortsetzte, schloss im Herbst 1893 einen Vertrag mit dem Hoftheater Kassel ab und sollte ihr Engagement im Frühjahr 1894 beginnen, wurde jedoch vorher in Dresden zur Königlich-Sächsischen Hofopernsängerin ernannt und dort verpflichtet [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 317]. mit einer recht netten Besoldung. Auch hat sie sich sehr
gut herausgearbeitet und ich habe mich redlich über sie gefreut.
Hier in Zürich
fühle ich mich, soweit es meine Stunden die ich mit mir allein und Thomar
verbringe, recht wöhnlich und mehr noch freue ich mich auf den Sommer, der in
der prächtigen Wohnung, welche ich inne habe, recht gemütlich sein muß. Ich bin
nur hier geblieben um mich daran zu gewöhnen, regelmäßig täglich einige Stunden
zu arbeiten, und wenn es auch nur die CollegienVorlesungen an der Universität. sind, so kann ich doch schon
von einem Erfolg sprechen. Da es hier in/a/uf der Straße, im Cafehaus | in
Gesellschaft unbedingt langweiliger ist als zu Hause bei sich allein, so ist
man viel im Lehnstuhl und das kostet wenig und bringt, wenn man ein Buch oder
die Feder in die Hand nimmt, sogar noch etwas ein.
Thomar lebt auf
seine gewohnte Weise, nur fürchte ich, daß seine Gesundheit sehr darunter
leidet. Dr. Schwann geht es leidlich, er arbeitet
sich mit seinen Artikeln so eigentlich von Hand zu Mund. Morgen Abend hält er
einen VortragDer Literarhistoriker Mathieu Schwann hielt seinen Vortrag am 13.12.1893 im Zunfthaus zur Meise in Zürich; die Presse berichtete: „Der Vortrag ‚Aus neuer deutscher Dichtung‘, den Herr Dr. Schwann am Mittwoch abend in der ‚Meise‘ hielt, war von etwa dreißig Personen besucht. Leider sprach der Vortragende so leise, daß uns ein beträchtlicher Teil seiner Rede verloren ging; was wir verstanden haben, gefiel uns durch gute Disposition, Klarheit und Knappheit des Ausdrucks, durch seinen poetischen Schwung und gewählte Sprache. Aus den Ereignissen von 1870, aus den sozialen Strömungen der Gegenwart entwickelte er das Wesen der neuen deutschen Poesie, die, zuerst in die Tiefen des sozialen Elends tauchend, sich jetzt mehr und mehr vom Naturalismus weg einem neuen Schönheitsideal zuwende. Mit kurzen Strichen zeichnete er einige der hervorragenden Geister der Bewegung und gab in größeren, sehr schön vorgetragenen Citaten die Belege zu seinen Ausführungen.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 73, Nr. 348, 14.12.1893, 2. Blatt, S. (2)]. Mackay war für vierzehn Tage hier, Dr. BoelscheWilhelm Bölsche, Schriftsteller und von 1890 bis 1893 Redakteur der Zeitschrift „Freie Bühne“ (Berlin), lebte seit Oktober 1893 vorübergehend in Zürich, nachdem er das Verhältnis zwischen seiner Frau Adele Bölsche (geb. Bertlet) und dem mit ihm befreundeten anarchistischen Publizisten Bernhard Kampffmeyer entdeckt hatte, in dessen Haus in Friedrichshagen (Wilhelmstraße 72), einem Treffpunkt des Friedrichshagener Dichterkreis, das Paar wohnte [vgl. Ronald Vierock: Spazieren gehen in Friedrichshagen. Etwas eilig. In: Hille-Post. Mitteilungen für die Freunde des Dichters. 46. Folge, Januar 2013, S. 35]. Bernhard Kampffmeyer und Adele Bölsche reisten daraufhin nach Paris und London, wo sie am 22.12.1893 eintrafen [vgl. Christoph Knüppel: „In eine abschreckend katholische Gegend sind wir hier geraten“. Der deutsch-jüdische Schriftsteller und Anarchist Gustav Landauer in Bregenz. In: Jahrbuch des Franz-Michael-Felder-Archivs der Vorarlberger Landesbibliothek, Jg. 10, 2009, S. 43]., dessen Frau mit Kampfmeier durchgebrannt ist (nach Paris)
gab seine Redactorstelle an der freien Bühne auf und lebt jetzt in einer
schönen WohnungWilhelm Bölsche wohnte in Zürich-Enge in der Seewartstraße 12, wie aus Wilhelm Boelsches Korrespondenz des Jahres 1893 mit Ernst Haeckel hervorgeht [vgl. Breidbach/Bach 2013]. hier in Zürich. Von Hartleben hat man die Nachrichten, daß
endlich der erlösende Tod seines Groß|vatersErnst Eduard Angerstein, Otto Erich Hartlebens Großvater mütterlicherseits, war am 17.10.1893 gestorben [vgl. Frank Wedekind an Otto Erich Hartleben, 22.10.1893]. eingetreten und er sich auf die
Erbschaft hin verheiratetOtto Erich Hartleben erbte von seinem verstorbenen Großvater 80.000 Mark und heiratete am 2.12.1893 seine langjährige Lebensgefährtin, die ehemalige Kellnerin Selma Hesse (genannt: Moppchen). hätte. Er schrieb Dr. Schwann
vor ungefähr 3 Wochen, daß er über München, Zürich nach Rom und Tunis zu reisen
gedenke. Angekommen hier ist er noch nicht. Blei macht in Bern seinen DoctorFranz Blei promovierte am 5.3.1894 in Bern zum Dr. phil. (Nationalökonomie) mit der Dissertation: „Abbé Galiani und seine Dialogues sur le commerce des blés (1770)“ (1895 in der Buchdruckerei K. J. Wyß in Bern erschienen)..
Soweit über Zürich.
Hami gedenkt immer noch nach Amerika zu gehen und will uns zu Weihnachten eine
gemeinsame Feier bereiten. Henkell schreibt von Hannover aus revolutionäre oder
doch wenigstens majestätsbeleidigende Artikelnicht ermittelt (die „Züricher Post“ ist in deutschen Bibliotheken nicht verfügbar). Bereits am 2.2.1888 war in der „Züricher Post“ Karl Henckells berühmt gewordenes „Lockspitzellied“ erschienen. an die Zürcher Post.
Noch einmal bitte
ich dich, gieb mir doch Aufschluß, wie und wo du Aufenthalt genommen und
schreibe mir etwas | über meine Arbeit. Ich möchte sie sehr, sehr gerne hier in
Zürich unterbringenDonald Wedekinds Reisebericht seiner Amerikareise erschien unter dem Titel „Eine Auswandererfahrt“ in der Beilage der „Züricher Post“ im Februar 1894 in mehreren Teilen [Nr. 29 vom 4.2.1894, Nr. 36 vom 13.2.1894, Nr. 41 vom 18.2.1894, Nr. 47 vom 25.2.1894 und Nr. 53 vom 4.3.1894]. und zwar während ich noch hier bin. Thomar meinte, das
Stück was ich in Händen habe, wäre unbedingt annehmbar und so komme ich in Versuchung, das erste Stück
einzugeben und so dem zweiten die Möglichkeit zu rauben untergebracht zu
werden. Schreibe noch also bald.
Von Rom aus habe
ich die besten Berichte und es juckt mich, wenn ich bisweilen einen Brief von
dort bekomme, in allen Adern, wieder aufzupacken, aber ich will hier aushalten,
bin ich wieder im Fahrwasser der regelmäßigen Arbeit drin | so bin ich ziemlich
einer sichren Zukunft gewiß.
Ich weiß, daß ich
so nie noch vollglücklich geworden wäre. Das hätte ich sein können, wenn ich
eine Million in den Händen gehabt hätte. Dann hätte ich mich in voller Wut in
den Genuß gestürzt, hätte wahrscheinlich bald genug bekommen, und mich dann
ohne Bedauern zurückgezogen und ein ruhiges Leben geführt. So würde immer etwas
Wehmut über die Jahre hinfließen, wo ich nicht so wie ich gewünscht hätte,
meinen Leidenschaften die Zügel schießen lassen könnte, um dann gesättigt mich
zurückzuziehen. Ich mußte schon vorher zur Erhaltung meines Lebens aus dem
Strudel heraus und das bedaure ich immer noch. Immerhin ist es noch nicht zu
spät sich wieder hinein zu stürzen, aber die Jahre vergehen und plötzlich ist
man nichts mehr wert. Also bitte nur eine Antwort. Hami wünscht es auch
sehnlichst, aber je nachdem teile ich ihm etwas mit oder nicht. Ich bin dein
treuer Bruder
Donald Wedekind
Tannenstrasse No 1
Pension
Staehli-Forrer