Lieber Otto Julius!
Endlich, endlich! Uff! Du bist mir natürlich böse daß ich
Dir für Deinen ebenso lieben wie ausführlichen Briefder Brief über die Modalitäten einer Eheschließung in England [vgl. Otto Julius Bierbaum an Wedekind, 26.2.1906]. erst heute danke. Ich habe
aber während der verflossenen 20 Jahre nie so viel zu schreiben gehabt und
geschrieben wie in | den verflossenen zwei Monaten. Ich sage Dir also meinen
aufrichtigen herzlichen Dank für die freundliche Theilnahme, die Du sofort
meinem/r/ Absicht mich zu verheiratenWedekind hat sich am 18.2.1906 mit Tilly Newes verlobt und sie am 1.5.1906 in Berlin geheiratet. entgegenbrachtest.
Leider bist Du ja nicht wie ich immer wieder hoffte auf längere Zeit hierhergekommen./,/
wir würden sonst sicher manche frohe Stunde zusammen
erlebt haben, wie ich es nun nur mit WeinhöppelWedekind hat seinen Freund Hans Richard Weinhöppel, der in Berlin lebte, häufig getroffen, dem Tagebuch zufolge zuletzt am 15.2.1906 („Im kleinen Theater treffe ich Weinhöppel, der mir einen Vortrag über Tillys Charakter hält“), 15.2.1906 („mit Tilly und Weinhöppel bei Habel“) und 28.2.1906 („Im kleinen Theater treffe ich Weinhöppel und esse mit ihm bei Wedel“); Otto Julius Bierbaum hat bei seinem Besuch in Berlin zur Premiere seiner „Stilpe-Komödien“ (siehe unten) Hans Richard Weinhöppel und Wedekind täglich gesehen, am 23.12.1905 („mit Weinhöppel und Bierbaum im Lindenrestaurant. Generalprobe der Stilpe Komödien“), 24.12.1905 („mit Weinhöppel und Bierbaum im Tucherbräu“) und 25.12.1905 („Premiere der Stilpekomödien. Nachher mit Bierbaum Weinhöppel Welisch und Schaumberger im Prinzen Wilhelm“). und GerhäuserWedekind hat seinen Freund Emil Gerhäuser, der Trauzeuge bei seiner Heirat war (siehe oben), zuletzt am 1.5.1906 gesehen: „Um 10 kommt Gerhäuser. […] Trauung.“ [Tb] gethan. Es war |
mir eine große Freude, daß die SchlangendameNachdem Otto Julius Bierbaums „Stilpe-Komödien“ (1905) „Das Cenacle der Maulesel“ und „Die Schlangendame“ am 25.12.1905 am Kleinen Theater (Direktion: Victor Barnowsky) in Berlin Premiere gehabt hatten, wurde nach einigen Vorstellungen nur noch der Einakter „Die Schlangendame“ gespielt, zuletzt am 15.5.1906 [vgl. Vorwärts, Jg. 23, Nr. 111, 15.5.1906, 3. Beilage, S. (3)]. so recht wieder zur Geltung kam.
Nun sie die Saison beschlossen hat, wird sie sicher auch im Herbst wieder
aufgenommen.
Ich bin derweil bei Reinhart mit Tartuffe durchgefallenWedekind spielte unter der Regie von Max Reinhardt die Titelrolle in Molières Komödie „Der Tartuffe“ am Deutschen Theater zu Berlin (Premiere: 25.4.1906) und notierte am 25.4.1906: „Tartuffe. Durchgefallen.“ [Tb] Otto Julius Bierbaum hatte einen Erfolg prognostiziert [vgl. Otto Julius Bierbaum an Wedekind, 26.2.1906]., und
bin jetzt sehr darauf gespannt ob ich schauspielerisch für Berlin abgethan bin.
Weinhöppel verließ Berlin mit der Absicht in WienHans Richard Weinhöppel hatte die musikalische Leitung des am 5.1.1906 in Wien eröffneten Künstlerkabaretts Nachtlicht übernommen [vgl. Wedekind an Karl Kraus, 28.12.1905], bevor er nach Köln ging (siehe unten)./Cöln/ eine
Stelle als Lehrer am ConservatoriumHans Richard Weinhöppel war inzwischen als Lehrer am Konservatorium der Musik zu Köln tätig, an das er Anfang des Jahres berufen worden ist; die Presse berichtete: „Herr Richard Weinhöppel ist soeben zum Nachfolger des verstorbenen Paul Haase als Gesanglehrer des hiesigen Konservatorium ernannt worden. Herr Weinhöppel, der gegen 40 Jahre alt ist, hat seine Gesangsstudien in Italien, Deutschland und Frankreich gemacht und war bisher zehn Jahre in München, zwei Jahre in Italien, zuletzt am Sternschen Konservatorium in Berlin als Gesangspädagoge tätig. Er beherrscht auch im Gesange neben dem Deutschen das Italienische, Französische und Englische und wird neben dem Gesange auch Mimik und Aesthetik der Gebärden an der hiesigen Musikanstalt lehren.“ [Kölnische Zeitung, Nr. 155, 12.2.1906, Mittags-Ausgabe, S. (2)] anzutreten, hat aber seitdem nicht ein Wort
von sich hören lassen. Seit seiner | Abreise bin ich sehr wenig mehr in
Gesellschaft gekommen, wie sich das offenbar leicht ergiebt, wenn man sich
verheiratet. Ich hatte wirklich zuerst nicht geglaubt, daß mir, der ich nie ein PapierWedekind hat sich schriftlich an verschiedene Stellen gewandt, um die für die Trauung mit Tilly Newes (siehe oben) notwendigen Dokumente zu besorgen, etwa eine Konfirmationsbescheinigung [vgl. Wedekind an Rudolf Wernly, 22.2.1906] oder den Geburtsschein [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 24.2.1906] oder andere Familienpapiere [vgl. Wedekind an Marktkirche Hannover, 1.3.1906]. besessen die Verheiratung in Deutschland möglich wäre, aber der
Polizei war der Schritt offenbar so wohlgefällig, daß sie alles that um ihn mir
zu erleichtern.
Meine liebe Tilly läßt sich Deiner lieben Frau und Dir
bestens empfehlend. Das letzte | was ich über Frau Gemma von Dir hörtewohl während Otto Julius Bierbaums Besuch Ende 1905 in Berlin (siehe oben)., war
nicht erfreulich. Sie hatte eben eine NervenkrisisZusammenhang nicht ermittelt. überstanden. Ich hoffe daß
sie sich ihrer Gesundheit wieder im vollsten Maße erfreut und
bitte Dich, ihr meine herzlichen Grüße und aufrichtigen Wünsche für ihr
Wohlergehen auszusprechen.
Im Sommer denke ich auf einige Tage nach MünchenFrank und Tilly Wedekind waren vom 26.6.1906 bis zum 30.7.1906 zu einem Gastspiel in München [vgl. Tb]. zu kommen.
Ob Ihr dann dort | seid? Es wäre zu schön, wenn die Damendie Ehefrauen Gemma Bierbaum und Tilly Wedekind. sich kennen lernten
und wir einige behagliche Stunden verleben könnten. Die Stadt Berlin ist
schrecklich schwer zu ertragen. Was gäbe ich darum wenn ich gerade in dieser
Zeit in München sein könnte.
Sei also noch einmal herzlichst bedankt und vergieb das
lange Schweigen Deinem Dir treu ergebenen Freunde
Frank
z.Z. Marienstraße 23.II.lWedekind wohnte in Berlin „seit seiner Verheiratung“ [Vinçon 2018, Bd. 1, S. 50] mit seiner Frau in einer gemeinsamen „Wohnung in der Marienstraße“ [Wedekind 1969, S. 73], die Übergangswohnung in der Marienstraße 23 (2. Stock links), bis das Paar am 31.8.1906 in die Wohnung Kurfürstenstraße 125 (3. Stock) umzog [vgl. Tb], die bald darauf bereits besichtigt wurde, wie Wedekind im Tagebuch am 28.5.1906 („sehe die Wohnung an“) und 29.5.1906 („Sehe mit Tilly die Wohnung an“) notierte..
16.V.6. |
Die Papiere die Du mir geschickt hast, lege ich beiBeilage waren Otto Julius Bierbaums Eheschließungsdokumente zu seiner ersten Heirat in London, die er Wedekind geschickt hatte [vgl. Otto Julius Bierbaum an Wedekind, 26.2.1906]..