Zürich FestGasse 21.IWedekind wohnte in Zürich in der Festgasse 21 (1. Stock) zur Untermiete..
– 24.11.95.
Lieber Herr BierbaumOtto Julius Bierbaum war nicht mehr in Berlin (oder Tegel bei Berlin), sondern in seinem neuen Domizil Schloss Engar in Eppan bei Bozen in Südtirol, wie aus dem Brief von Richard Strauss an Karl Henckell vom 5.1.1896 hervorgeht: „Wie schön hat es Bierbaum; der bewohnt ein ganzes Schloß bei Bozen, auf der Höhe von St. Eppan; ich besuchte ihn Ende November daselbst.“ [Rapp 2019, S. 44],
Ihre freundlichen Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Otto Julius Bierbaum an Wedekind, 23.11.1895. lassen es mich aufs allertiefste
bedauern, daß sich unsere Interessen nicht günstiger decken. Freilich gegenüber
den Gründen, die Sie mir entgegenführen, bleibt mir nichts einzuwenden übrig.
Wenn ich bei dem UnternehmenZusammenhang nicht ermittelt. Es dürfte sich um ein Publikationsprojekt gehandelt haben. in erster Linie an Sie dachteHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben, in dem Wedekind jenes Unternehmen (siehe oben) vorschlug; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Otto Julius Bierbaum, 22.11.1895. Otto Julius Bierbaum wiederum dürfte in seinem nicht überlieferten Schreiben (siehe oben) auf den Vorschlag sogleich geantwortet haben., so glauben Sie mir,
wußte ich sehr wol warum. In erster Linie war mir dabei die feste Überzeugung
maßgebend, daß wir in künstlerischer Beziehung harmoniren und uns gegenseitig
mit voller Kraft in die Hände arbeiten würden. Ich habe wahrhaftig nicht | so
vornehmlich an den Geschäftsmann gedacht, obschon ich mir auch in dieser Beziehung,
ganz abgesehen von PanOtto Julius Bierbaum hatte gemeinsam mit Julius Meier-Graefe die ersten beiden Hefte (dort als verantwortliche Redakteure ausgewiesen) der anspruchsvollen Kunstzeitschrift „PAN“ redigiert [vgl. PAN, Jg. 1 (1895/96), Heft 1, April/Mai 1895; Heft 2, Juni/Juli 1895] und war maßgeblich am Zustandekommen der lange geplanten Zeitschrift beteiligt gewesen [vgl. Otto Julius Bierbaum an Wedekind, 15.4.1893]; tiefgreifende Konflikte hinsichtlich der inhaltlichen Ausrichtung hatten dazu geführt, dass sie die Redaktion abgaben und ihre Sitze im Aufsichtsrat der Genossenschaft PAN niederlegten [vgl. Tb Kessler, Bd. 1, S. 45-47]., ein für mich unerschütterliches Urtheil über Sie
gebildet hatte. In Gottes Namen, aber seien Sie überzeugt daß mich die
sympathische Aufnahme, die meine Bestrebungen bei Ihnen gefunden die
Unmöglichkeit unseres Zusammen Arbeitens erst recht bedauern läßt. Herrn Meier
Gräfe kenne ich nicht so genau. Mir fehlt ihm gegenüber die Sicherheit, mit der
ich Ihnen den Vorschlag machte. Immerhin nehme ich die Eventualität mit Freuden
auf und danke Ihnen für den Schritt den Sie bereits in dieser Richtung für mich
gethan haben. Darf ich Sie ersuchen, ihm die übrigen Papiere ebenfalls | zus/z/usenden
und mir, wenn Sie sie erfahren, seine AdresseJulius Meier-Graefe war zwar noch als Schriftsteller in Berlin verzeichnet (Schillstraße 4, 3. Portal, 3. Stock) [vgl. Berliner Adreß-Buch für 1895, Teil I, S. 869], er siedelte aber Ende 1895 nach Paris über, wo sein „lebenslanger Freund, der Schriftsteller und Geigenbauer Julius Levin [...] seit 1894 [...] am Fuße des Montmartre, Rue Lallier“ lebte (als Korrespondent des „Berliner Börsen-Courier“ in Paris); „3 Rue Lallier wurde Meier-Graefes erstes Pariser Quartier.“ [Catherine Krahmer: Julius Meier-Graefe. Ein Leben für die Kunst. Göttingen 2021, S. 31] mittheilen zu wollen. Vielleicht
haben Sie auch noch einige warme bestimmende Worte für ihn, die sicherer
treffen, als etwas, das ich ihm schreiben könnte, da ich ihn leider nur so
wenig kenne. Darüber, daß wir harmonieren würden, bin ich außer Sorge, aber ich
gestehe Ihnen, daß ich mir des glücklichen Erfolges mit Ihnen s/g/ewisser
war.
Und nun zum Übrigen. Langen werde ich in meinem nächsten
Briefe auf das Manuscriptnicht ermittelt. Der Text von Anna Croissant-Rust, die erst ab 1910 gelegentlich im „Simplicissimus“ veröffentlichte, wurde seinerzeit nicht publiziert. hinweisen. Es scheint mir, soweit ich Einsicht in die
Dinge habe auch nicht ausgeschlossen, daß Frau Croissant RustAnna Croissant-Rust, seinerzeit als Schriftstellerin in Ludwighafen am Rhein lebend [vgl. Deutscher Litteratur-Kalender auf das Jahr 1896, Teil II, Sp. 203], war mit Otto Julius Bierbaum befreundet. an seiner neuen
ZeitschriftAlbert Langen bereitete die illustrierte Wochenschrift „Simplicissimus“ vor, deren erstes Heft zwar am 1.1.1896 im Albert Langen Verlag in München (Redaktion: Kaulbachstraße 51a) erscheinen sollte, was sich aber auf den 4.4.1896 verschob; die Idee zu „diesem farbigen, großformatigen Wochenblatt“ hatte er „aus Frankreich mitgebracht“ [Abret 1993, S. 56] (zu den Vorbildern des „Simplicissimus“ gehörte die illustrierte französische Wochenschrift „Gil Blas illustré“). mitarbeitet. Jedenfalls werde ich sein Interesse auf diesem | Wege
zu stimuliren suchen. Allerdings bin ich mir über seine Pläne selber noch nicht
vollkommen klar. Er will Poesie, Moral
und Volksthümlichkeit, um auf einen möglichst großen
Leserkreis zu wirken. Wenn Sie sich ihm also nahen, dann thun Sie es unter
obigen Zeichen, verrathen Sie aber bei Leibe nicht daß ich Ihnen die Parole
mitgetheilt da er mich für einen gewissenlosen Gauner hält. Ich schreibe Ihnen
das gewiß nicht in meinem Interesse, sondern nur in dem Ihrigen. Vielleicht
haben Sie irgend etwas auf LagerOtto Julius Bierbaum gehörte dann zu den mehr oder weniger regelmäßigen Beiträgern des „Simplicissimus“; sein erster Beitrag, ein Gedicht, erschien im dritten Heft [vgl. Otto Julius Bierbaum: Im Schlosse Mirabel. In: Simplicissimus, Jg. 1, Nr. 3, 18.4.1896, S. 3]., was sich unter obiger Marke in den Handel
bringen ließe, sei es Poesie oder Prosa. Von mir hat er bisher nur GedichteWedekind hat im „Simplicissimus“ zwischen 1896 und 1902 insgesamt 54 Gedichte, teils unter seinem Namen, teils unter wechselnden Pseudonymen, publiziert [vgl. KSA 1/II, S. 2234-2236].
acceptirt; meine ProsaDas erste Heft des „Simplicissimus“ eröffnete mit Prosa Wedekinds, auf dem Titelblatt eine Zeichnung „Die Fürstin Russalka“ (sie stammt von Angelo Jank), im Heft Wedekinds gleichnamige Erzählung [vgl. Frank Wedekind: Die Fürstin Russalka. In: Simplicissimus, Jg. 1, Nr. 1, 4.4.1896, S. 2f.]. ist ihm immer noch nicht moralisch genug. Übrigens weiß
ich | auch nicht ob er schon einen RedacteurAlbert Langen hatte als Redakteur des „Simplicissimus“ zunächst Otto Erich Hartleben vorgesehen [vgl. Abret 1993, S. 218], der bereits damit begonnen hatte, Mitarbeiter brieflich anzuwerben, am 17.11.1895 Richard Dehmel und Arno Holz, am 25.11.1895 Arthur Schnitzler [vgl. Heitmüller 1912, S. 227f.], sich dann aber zurückzog. Otto Erich Hartleben teilte Richard Dehmel am 4.1.1896 mit: „Es ist nichts mit dem Simplicissimus. [...] Der Esel will selber redigieren – gut: soll er sehn, wie weit er kommt. Ich mache nicht mit.“ [Heitmüller 1912, S. 229] Der Verleger selbst ist dann im ersten Heft als Chefredakteur ausgewiesen (und blieb es bis zu seiner Flucht Ende 1898 infolge der Majestätsbeleidigungsaffäre): „Verantwortlicher Redacteur: Albert Langen.“ [Simplicissimus, Jg. 1, Nr. 1, 4.4.1896, S. 7] für dieses neue Unternehmen hat.
Führen Sie Ihre Bekanntschaft mit französischen Künstlern in’s Feld, pochen Sie
überhaupt möglichst auf Beziehungen. Das ist eine
Flagge vor der er noch am ehesten die Segel streicht. Wenn Sie mich fragen ob
ich Ihnen rathe mit ihm anzubändeln, so muß ich unter allen Umständen sagen Ja,
da er immer noch eine sehr solvente Nummer ist. Aber rechnen Sie mit dem
größtmöglichen Mißtrauen seinerseits. Suchen Sie ihn zu stupificirenverblüffen, aus der Fassung bringen. durch
irgend eine Idee, eine Novität, eine Entdeckung etwas Nochniedagewesenes. Das
ist alles was ich Ihnen mit gutem Gewissen schreiben kann.
Und nun leben Sie wol. Empfehlen | Sie mich Frau BierbaumAuguste Bierbaum (geb. Rathgeber), Otto Julius Bierbaums erste Ehefrau (Heirat am 16.8.1892 in London), die zunächst mit ihm in Oed bei Beuerfeld gelebt hat, dann mit ihm nach Berlin ging und nun mit ihm das gemeinsame Domizil in Südtirol bezogen hat [vgl. Raff 2019, S. 41-47].
aufs bestem und seien Sie selber herzlich gegrüßt.
Ihr
Frank Wedekind.