Berlin 1/9.97Wedekind hat den Brief vom 1.9.1897 in einem Entwurf zum 9. Auftritt des Einakters „Der Kammersänger“ als Quelle für einen Monolog Helene Marowas genutzt, auf dem er „Scene mit J.R.“ sowie „Aussprüche von J.R.“ notierte; einige davon sind dem vorliegenden Brief entnommen: „‚Die abenteuerlichsten Gedanken kommen mir[...]‘ – ‚[...] ich unterhalte mich im Geiste den ganzen Tag mit Dir.‘ – ‚Du mein Alles [...]‘ – ‚Ich empfinde bei einer Berührung mit G. gar nichts [...]‘“ [KSA 4, S. 331].
Mein lieber, einziger Frank!
Gestern war ich bei S.bei Ludwig Scharf, der die Deckadresse für die geheime Korrespondenz Wedekinds mit Julia Rickelt bot (siehe unten). habe mir Deinen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Julia Rickelt, 29.8.1897. geholt, wie glücklich bin ich, dass d/D/u
mich noch nicht vergessen hast. Immer und immer muss ich an Dich denken und die
abendteuerlichstenSchreibversehen, statt: abenteuerlichsten. Gedanken kommen mir, wie ich wenigstens auf ein paar Stunden
mit Dir zusammen sein könnte. Mit der HarzreiseGustav Rickelt hatte zunächst geplant, vom 1. bis 3.9.1897 mit seiner Frau in den Harz zu fahren [vgl. Julia Rickelt an Wedekind, 26.8.1897]. ist es nun nichts,
ich habe zu wenig Opposition dagegen gemacht und so ver|lief die Sache von
selbst, jetzt denkt G. mit M* nicht identifiziert. nach den WaldeckschenGustav Rickelts Verwandtschaft väterlicherseits stammte aus dem Waldecker Land; sein Großvater und ein Onkel waren dort Oberförster und er verbrachte schon als Kind und als junger Schauspieler dort die Ferien [vgl. Rickelt 1930, S. 5-9, 93-97]. zu fahren, wenn er im
ersten StückDie Spielzeit unter der neuen Direktion Theodor Brandt, der die Leitung des Berliner Residenztheaters am 1.9.1897 angetreten hat, wurde mit der Premiere des Schwanks „Die Einberufung“ („Le Sursis“) von André Sylvane und Jean Gascogne am 9.9.1897 eröffnet; Gustav Rickelt spielte darin unter der Regie von Theodor Brandt die Rolle des Major Lagriffoul [vgl. Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 421, 9.9.1897, Morgen-Ausgabe, S. 8]. nichts zu thun haben wird, heute oder
morgen wird er es erfahren. Sollte er wirklich fahren so bin ich wieder bis zum
11ten dieses Monats allein. Wenn ich nur Geld hätte, so wollte ich
es schon einrichten, auf einen Tag zu Die/r/ zu kommennach Dresden.. Oh wie ich mich
nach Dir sehne! Frank mein Frank! Ich weiss wirklich nicht wie
ich das Leben ohne | Dich, du mein Alles, ertragen werde. Wenn ich nur wi/ü/sste
wenn Du wieder hier bist! Ich empfinde bei einer Berührung mit G. gar nichts, so dass es mir unmöglich ist an Dich dabei
zu denken, es ist mir so furchtbar gleichgültig, dass es beinah erschräckendSchreibversehen, statt: erschreckend.
ist, ich fühle seine Liebkosungen nicht ein mal. Mein einziger Gedanke bist Du
und glaube mir wäre nicht Li.Kosename oder Abkürzung für die Tochter Lucia, die Julia Rickelt in die Ehe mit Gustav Rickelt mitbrachte, wie dieser in seiner Schilderung der Heirat beschrieb: „Und im Mai fahre ich nach Polen, wir heiraten und kehren dann gemeinsam mit ihrem siebenjährigen Töchterchen aus erster Ehe nach München zurück.“ [Rickelt 1930, S. 169] nichts wäre im Stande
mich von Dir zu trennen. Wie freue ich mich, dass Du ruhig arbeiten kannst, ist
| doch Deine Arbeit das einzige Mittel, welches uns wieder zusammen bringen
wird. Denn schwerlich kämest Du je nach Berlin zurück, wenn es Deine InterrestenSchreibversehen, statt: Interessen. nicht nötig hätten. Dass Du an mich denkst
fühle ich, ich würde sonst nicht, mich mit solcher Gewalt mich nach Dir sehnen; meine ganze Seele ist
bei Dir, ich unterhalte mich im Geiste den gaz/n/zen Tag mit Dir und wem
nicht die Hoffnung Dich bald wieder zu haber/n/, so denke ich, dass ich
mir das Leben nehmen würde,/./ Das ist banal, aber ‒ wahr, Frank mein lieber Frank. Schreibe mir
bald. p.Ad. Magdeburger Str.Bei der Deckadresse, die Julia Rickelt bereits in ihrem ersten Brief nach Dresden benutzt hatte [vgl. Julia Rickelt an Wedekind, 26.8.1897], handelte es sich um die Redaktion der „Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus“, deren Chefredakteur der mit ihr und Wedekind befreundete Schriftsteller Ludwig Scharf war: „Verleger und verantwortlicher Redakteur: Ludwig Scharf, Magdeburgerstr. 13.“ [Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus, Jg. 7, Nr. 34, 21.8.1897, S. 272]
Deine ganz die Deinige