München 26. Dezember 1915Wedekind vermerkte am 26.12.1915: „Brief an Harden“ [Tb]..
Lieber, verehrter Herr Harden!
Lieber Freund!
Gestern Abend erfuhr ich die NachrichtMaximilian Harden hat als Herausgeber der Wochenschrift „Die Zukunft“ folgende Nachricht drucken lassen: „Am 22. Dezember 1915 ist das Erscheinen der ‚Zukunft‘ verboten worden.“ Nur dieser eine Satz steht gedruckt auf einem mit dem Kopf „Die Zukunft“ und der Adresse „Berlin. Verlag der Zukunft. Wilhelmstraße 3a. 1915“ versehenen Einzelblatt (heute ist es in Bibliotheksbänden der Zeitschrift zwischen den Heften vom 18.12.1915 und 29.1.1916, die Lücke im Erscheinen markierend, eingeheftet). Wedekind erfuhr die Nachricht am 25.12.1915 abends in der Torggelstube, wo er Max Halbe und dessen Kreis traf, wie er notierte: „T.S. mit Halbegesellschaft und Leutnant Mühe. Zukunft verboten.“ [Tb], die mich beinahe
ebenso erschütterte wie der Ausbruch dieses Krieges. Die halbe Nacht konnte ich
nicht schlafen und heute finde ich die/as/ schmachvolle Nachricht
Verbot überall bestätigt.
Ich habe das Gefühl, daß Deutschland seit der Schlacht an der MarneDie verlustreiche Schlacht an der Marne (6. bis 9.9.1914) markiert mit der Niederlage des deutschen Heeres das Scheitern des deutschen Operationsplans an der Westfront und war für den weiteren Kriegsverlauf von entscheidender Bedeutung. keine
schwerere Niederlage erlitten hat. Gestern Abend konnte ich noch nicht glauben,
daß wir | uns eigenhändig einen solchen Schlag versetzen, unseren Feinden ein
solches Eingeständnis eigener Schwäche in die Hand spielen könnten. Nun ist es
Tatsache, daß wieder ein Pfeiler unserer Existenz eingestürzt ist.
Erwarten Sie keine tröstenden Worte von mir. Der furchtbare
Schlag läßt mir/ch/ das Schicksal der Allgemeinheit fast bedauerlicher
erscheinen als das Ihre. Das schlimmste ist, daß ich keinen Trost für Sie oder
für uns finde. Erlauben Sie mir nur, Sie um eines zu bitten: Besonnenheit. In
Ketten | geworfen zu werden ist keine Schande. Der ungeheure Verlust, der Sie
trifft, die scheinbare Vernichtung Ihres Lebenswerkes muß Sie aufs tiefste
verbittern, aber das Höchste und wertvollste, Ihr eigenes Selbst retten Sie
doch am heilsten aus dem Unglück, je mehr Kälte Sie dem Unglück entgegensetzen.
Leicht gesagt! Trotzdem halte ich es für Pflicht, es Ihnen zu sagen, nicht aus
Zweifel an Ihrer Stärke und Widerstandskraft sondern nur, weil es praktisch
jetzt das wichtigste notwendigste ist. Sie danken Ihre Macht keiner Strömung,
keiner Gunst. Wer wie Sie, vor dem Kriege so ganz auf | sich selbst gebaut in
ununterbrochenem Ringen einzig und stark dastand, der wird auch nach dem Kriege,
hoffentlich auch schon vorher wieder der Erste sein. Nach allem was ich von
Kämpfern höre, muß das Verbot einen Rückschlag bewirken, der an Stärke den
erreichten Zweck weit übertrifft und trauriger Weise auf unheilvolle Bahnen
führt. Dies Unheil fällt Ihren Unterdrückern zur Last. Ihr Urteil in
Flugschriften bekannt zu geben kann man Ihnen beschränken aber nicht verbieten,
so | beschämend und erniedrigend das fortwährende Kettenrasseln allerdings auf
den Kämpfenden wirken muß. Trauriger Weise läßt das Verbot ja eine weite
Voraussicht erkennen und entspringt vielleicht mehr der Furcht vor dem was Sie
nach dem Frieden äußern werden als vor Ihrem gegenwärtigen Wirken.
Eben ruft mich Frau Prof. Pringsheim an und erzählt mir/von/
Ihrem BriefDer Brief von Maximilian Harden an Hedwig Pringsheim ist nicht überliefert. Sie notierte dazu am 26.12.1915: „Äußerst deprimierter Harden-Brief, da die Zkft. definitiv verboten. Briefchen an ihn u. mit Wedekind telephonirt.“ [Tb Pringsheim] In ihrem Brief an Maximilian Harden vom 26.12.1915 nimmt sie auf dessen Brief und auf Wedekind Bezug: „Liebster Freund ‒ eben bekomme ich Ihren Brief […]. Und Wedekind, den ich sofort anrief, war fassungslos und meinte, es sei das traurigste Zeichen von Deutschlands Tiefstand, das er bisher erlebt habe. Er wollte Ihnen auch gleich selber schreiben.“ [Martin 1996, S. 124]. Empfangen Sie herzlichen Dank, daß Sie unter der Marter dieser Schicksalsstunde
auch noch | meiner gedenken. Leider kann ich Ihnen ja nichts sagen, was sich
Ihnen nicht viel lebendiger darstellt. Der Schriftstellerschutzverband muß ProtestWedekind hielt gleich am 27.12.1915 fest, er habe im Café Luitpold mit Kurt Martens und Georg Caspari darüber gesprochen, der Schutzverband deutscher Schriftsteller solle aktiv werden: „C.L. mit Martens und Castpari. Schriftstellerschutzverband soll gegen Verbot von Zukunft protestieren.“ [Tb] Das Verbandsorgan „Der Schriftsteller“ hat keinen Protest veröffentlicht, da das Verbot der „Zukunft“ bald wieder aufgehoben war.
gegen das Verbot erheben. Ich benachrichtige sofort den hiesigen VorstandVorsitzender der Ortsgruppe München des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller war seinerzeit Kurt Martens., dann
werden wir uns nach Berlin wenden. Helfen wird es nicht aber es darf nicht
versäumt werden.
Vielleicht vermag die Thatsache ein/Ihre/ Fassung zu
stärken, daß das Verbot ganz ohne Zweifel die Folge der gewaltigen Wirkung ist,
die „Die | Zukunft“ während des ganzen Krieges in Deutschland ausübte und die
während des letzten halben Jahres von Woche zu Woche wuchs. Sie allein in ganz
Deutschland fanden den Weg zur Wahrheit. Das konnte nicht länger geduldet
werden. Es giebt keinen anderen Trost als das allgemeine Elend ringsumher.
Lassen Sie sich nur Ihre Gesundheit nicht antasten.
Nun leben Sie wohl, lieber verehrter Herr Harden. Mit
herzlichen Grüßen an Sie und Ihre Frau Gemahlin von meiner Frau und mir
Ihr treuergebener
Frank Wedekind.