München, 21.IX.1901.
Lieber Herr ZickelDr. phil. Martin Zickel, Regisseur am Berliner Residenztheater [vgl. Neuer Theater-Almanach 1902, S. 251], dürfte inzwischen nach Charlottenburg (Knesebeckstraße 72/73) [vgl. Adreßbuch für Berlin 1902, Teil I, S. 1936] umgezogen sein.!
Mein Brief an das Be. T.Wedekinds Brief [vgl. Wedekind an Berliner Tageblatt, 18.9.1901], aus dem im vorliegenden Brief zitiert ist, war im „Berliner Tageblatt“ in der Anfangspassage leicht gekürzt abgedruckt worden [vgl. Berliner Tageblatt, Berlin, Jg. 30, Nr. 477, 19.9.1901, Abend-Ausgabe, S. (3)]. begann mit folgendem Satz: Da Sie
vor etwa vierzehn Tagen unter der Marke „Dichter heraus“ die durch mich nicht begründete Notiz brachten, ich hätte
die Absicht, vor der Aufführung meines „M. v. K.“ selber eine sogenannte „Conference“
vor dem Publicum zu halten (eine Geschmacklosigkeit, die keinem Menschen auf
dieser Welt ferner liegt als mir) und da ich fürchten muß, daß Sie gegenwärtig mit
ähnlichen Notizen über meine Absichten behelligt werden, so erlaube ich mir, mit
der Bitte um eventuelle Veröffentlichung,
Sie von folgenden Thatsachen in Kenntnis zu setzen.
Die unterstrichenen Worteim vorliegenden Brief, der nur gedruckt überliefert ist, die gesperrten Passagen im Briefzitat. hat die Redaction gestrichen. Sie
ersehen daraus, daß ich die Einsendung, nur für den Fall berechnet hatte, daß
das B. T. von anderer Seite für mich nachtheilige Notizen über mich erhalte.
Was die ConferenceDas „Berliner Tageblatt“ hatte eine Notiz zu einer angeblich anstehenden Selbstvorstellung Wedekinds vor dem Berliner Publikum unmittelbar vor der in Aussicht genommenen Uraufführung des „Marquis von Keith“ veröffentlicht und eine solche Selbstdarstellung durch den Autor kritisch kommentiert: „Was das Ueberbrettl kann, ist schließlich auch den Brettern, die die Welt bedeuten, möglich. Der Versuch, den Dichter am Abend der Erstaufführung seines Stückes vor Beginn der Vorstellung vor die Rampe treten, ihn von sich, von seinem neuen dichterischen Erzeugniß, von seiner Weltanschauung überhaupt plaudern zu lassen und so eine persönliche Verbindung zwischen Publikum und Darbietung herzustellen, soll zuerst in Berlin im Residenz-Theater von Direktor Lautenburg unter Doktor Martin Zickels Leitung gemacht werden. Frank Wedekind wird als erster Dichter, der über sich selbst eine Conference abhält, vor dem Vorhang erscheinen, und zwar bei der noch im Anfang der Saison stattfindenden Premiere seines ‚Marquis von Keith‘. Wedekind wird sicher seine Person zur Geltung bringen. Er läßt gewiß kein Wort unter den Tisch fallen. Auch d’Annunzio wußte sich ins rechte Licht zu stellen. Man muß sowohl dem aufzuführenden Autor wie dem Publikum dringend wünschen, daß diese fragwürdige Neuerung sich nicht durchsetzen möge, – sie kann der Kunst nur Schaden zufügen!“ [Die Dichter heraus! In: Berliner Tageblatt, Jg. 30, Nr. 439, 30.8.1901, Morgen-Ausgabe, S. (3)] Wedekind antwortete dem „Berliner Tageblatt“ am 18.9.1901 im genannten offenen Brief (siehe oben). betrifft, so halte ich sie bei einem modernen actuellen
deutschen Stück unter allen Umständen für eine Geschmacklosigkeit, auch wenn
jemand anders als der Autor sie abhält. MeßthalerEmil Meßthaler hatte geplant, den „Marquis von Keith“ in Berlin, wo er vom 15.6.1901 bis 15.8.1901 als Direktor am Neuen Theater [vgl. Neuer Theater-Almanach 1901, S. 461] gastierte, auf die Bühne zu bringen, was er nicht realisierte. „Marquis von Keith“ wurde am 11.10.1901 unter der Regie von Martin Zickel am Berliner Residenztheater (Direktion: Sigmund Lautenburg) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1902, S. 251] uraufgeführt [vgl. KSA 4, S. 533]. hatte die Absicht, Alfred
Kerr eine Conférence vor dem M. v. K. abhalten zu lassen. Ich opponirte ihm
darin mit aller Heftigkeit und machte schlechte Erfahrungen damit. Deshalb mag
ich mich Ihnen gegenüber nicht so entschieden ausgedrückt haben. Dagegen kann
Ihnen jeder, der mich näher kennt, bestätigen, daß ich von Grund aus gegen
solche Veranstaltungen bin.
Was nun den Contract mit FerenczyWedekind hatte sich gegenüber Martin Zickel so ausführlich wie empört zu dem Vertrag geäußert und auch aus ihm zitiert [vgl. Wedekind an Martin Zickel, 20.5.1901], den José Ferenczy, Direktor des Central-Theaters in Berlin [vgl. Neuer Theater-Almanach 1902, S. 255], mit ihm dann über seine Mitwirkung an dem von Martin Zickel initiierten literarischen Kabarett ‒ möglicherweise modifiziert ‒ abgeschlossen hat. betrifft, so wäre ich
allerdings in tiefster Seele froh, wenn er sich lösen ließe. Als Sie mir die
ersten Mittheilungen über das Unternehmen machten, hatte Meßthaler den M. v. K.
für Juli angenommen. Deshalb gieng ich auf die Idee mit Vergnügen ein. Als aus
jener Vorstellung nichts wurde, stellte ich Ihnen dann die Bedingung, daß er zu Beginn der Saison
gebracht werde und schloß, wie Sie wissen, nur unter der Bedingung ab. Ich
weiß, daß Sie Ihr Möglichstes in dieser Sache gethan haben, gestehen Sie mir
aber offen, daß Sie Ihre Machtsphäre stark überschätzten. Jetzt soll ich mit
allen Mitteln darauf hinwirken, um mich bei ernst-denkenden Menschen völlig
unmöglich zu machen. Mich trifft der Schlag mindestens so schmerzlich wie Herrn
Director Ferenczy, aber über mich schreibt die Berliner Kritik, ich sei ein
Mensch, der sich und seine Kunst verachtet. Diese, wie Sie wissen, grundweg
falsche Ansicht über mich ist mein künstlerischer Tod, und den kann ich durch
mein Auftreten mit meinen Brettl-Liedern nur beschleunigen. Ich habe diesen
Genre gepflegt, um einen Druck ausüben zu können. Wenn aber diese Handhabe
versagt, dann habe ich in meiner Seele nichts mehr damit zu thun. Wenn Sie
heute ein Stück schreiben, dann werden Sie aufgeführt. Warum das bei mir nicht
ebenso ist, dafür kennen Sie die Gründe zum Theil. Durch den Erfolg des
KammersängersNach der erfolgreichen Uraufführung von Wedekinds Einakter „Der Kammersänger“ am 10.12.1899 im Rahmen der Eröffnungsmatinee der Secessionsbühne am Neuen Theater in Berlin (von Martin Zickel inszeniert), nach der das Stück erfolgreich an diversen Bühnen aufgeführt wurde, unter anderem bei Gastspielen der Berliner Secessionsbühne in Prag, Wien und München [vgl. KSA 4, S. 392], hatte es am 31.8.1901 am Berliner Residenztheater Premiere und Wedekind selbst trat in dieser Inszenierung am 8.9.1901 als Gerardo auf, wie die Presse meldete: „In der im Residenztheater am Sonntag stattfindenden Aufführung des Einakters ‚Der Kammersänger‘ wird die Titelrolle von dem Verfasser, Frank Wedekind, selbst dargestellt werden.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 30, Nr. 455, 7.9.1901, Abend-Ausgabe, S. (2)], übrigens meines schlechtesten Stückes, glaubte ich den
fürchterlichen Bann, der seit Jahren meine ganze Production zurückhält, endlich
gebrochen. Das war eine Täuschung. Man steht mir gerade so abweisend gegenüber
wie vorher, und hält mich höchstens mit Versprechungen hin, die nie in
Erfüllung gehen. Was nun soll ich mit diesen Empfindungen vor einem Publicum,
dem ich die ernstesten Dinge in künstlerisch origineller und gewiß nicht langweiliger
Form zu sagen hätte, den Hanswurst machen und mich im Schmutz wälzen.
Für mich gestaltet sich das Leben nicht so glücklich wie für
Sie; ich habe mir jeden Fußbreit mit übermenschlicher Anstrengung erkämpfen
müssen. Vielleicht
verstehen Sie aus dieser Thatsache meine Handlungsweise. Dafür würde ich Ihnen
dankbar sein.
Mit bestem Gruß Ihr
Frank Wedekind.