Grunewald, 3/12 11
Lieber Herr Wedekind,
herzlich danke ich Ihnen dafür, daß Sie mir Ihre neue
Dichtung geschicktWedekind hatte Maximilian Harden „Franziska“ geschickt [vgl. Wedekind an Maximilian Harden, 17.11.1911). haben; sehr herzlich. Denn ich freue mich schon, in diesem
Werk Sie wiederzufinden. Wäre nicht so tolle ZeitAnspielung auf die 2. Marokkokrise und ihre Folgen. Nach der Besetzung Marokkos durch französische Truppen landeten im Oktober 1911 italienische Truppen in Tripolitanien (heute Libyen), das türkisches Einflussgebiet war, um die Anerkennung ihrer Interessen in Tripolis zu realisieren. Die Türkei, die von Deutschland, Österreich-Ungarn, Frankreich, England und Russland keine Unterstützung fand, leistete Widerstand gegen das italienische Vorgehen. Der italienisch-türkische Krieg veranlasste die Balkanstaaten zu einem Angriff auf die europäischen Besitzungen der Türkei. Maximilian Hardens Leitartikel „Judica“ [vgl. Die Zukunft, Jg. 20, Nr. 8, 25.11.1911, S. 239-252], „Englisches Salz“ [vgl. Die Zukunft, Jg. 20, Nr. 9, 2.12.1911, S. 273-283] und „Finish“ [vgl. Die Zukunft, Jg. 20, Nr. 10, 9.12.1911, S. 307-322], die alle die deutsche Marokko-Politik anprangern, die mit Blick auf kolonialistische Machterweiterung zu nachgiebig sei, sind vor diesem Hintergrund zu lesen., so verhängnisvolle,
vielleicht, dann hätte ich dieses Neuste allsogleich verschlungen.
Ich denke noch gern an die NachtstundenMaximilian Harden war am 11.11.1911 wegen eines Vortrags in München – „Samstag abend halb 8 Uhr findet im Hotel ‚Vier Jahreszeiten‘ der Vortrag ‚Die politische Lage‘ von Maximilian Harden statt“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 64, Nr. 528, 11.11.1911, Morgenblatt, S. 9] – und sah Wedekind anschließend zunächst in kleinerer Runde zum Abendessen im Hotel Vier Jahreszeiten (mit Hedwig Pringsheim und Thomas Mann), dann in der Torggelstube in größerer Runde: „Hardenvortrag. Vierjahreszeiten mit Harden Frau Pringsheim Thomas Mann. T.St. Große Gesellschaft Dauthendey Drache Grauli.“ [Tb] Das war die Premierengesellschaft, die aus dem Münchner Schauspielhaus kam, wo das Drama „Der Drache Grauli“ (1911) von Max Dauthendey uraufgeführt worden war. Hedwig Pringsheim notierte zu dem bis in die Nacht gehenden Abend am 11.11.1911: „Vortrag glänzend, nur viel zu lang: geschlagene 3 Stunden! viel Beifall. Danach mit dem gänzlich erschöpften Harden, mit Tommy u. Wedekind in den Jareszeiten soupirt, anregend u. gemütlich. Dann noch in die ‚Torgelstube‘, da Harden zu aufgeregt, dort erst selbviert, dann mit der ganzen Premièrengesellschaft von Dauthendey’s ‚Drache Grauli‘ (Stolbergs, Halbe, Dauthendey’s, Holms, Peglers, Randolfs ect) dort bis zur Polizeistunde um 3 Ur zusammengesessen!“ [Tb Pringsheim], die wir gemeinsam
verlebten. Aber so recht kommt man doch nur zu Zweien zur Aussprache. Ich
hoffe, das erleben wir bald einmal.
Wollen Sie sich nicht in der Zkft. mal hören lassenMaximilian Harden erhielt von Wedekind für die „Zukunft“ ein Gedichtmanuskript [vgl. Maximilian Harden an Wedekind, 21.2.1912].? Sie
vermögen sich ja so zu objektiviren, daß Sie auch über die Censur sprechen
könnten, die Ihnen jetzt so viel AergerWedekind hatte in München Ärger mit der Zensur wegen der nicht erfolgten Freigabe von „Oaha“ für eine öffentliche Vorstellung [vgl. KSA 8, S. 606]. zu machen scheint. Oder über Anderes. |
Empfehlen Sie mich, bitte, Ihrer verehrten Gattin, die ich
neulich sehr vermißte.
Herzliche Wünsche von
Ihrem
Harden