Kennung: 564

München, 11. Juni 1905 (Sonntag), Brief

Autor*in

  • Blei, Franz

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Lieber Frank, in einem BüchelBüchlein – der Band „Launenhafte, zärtliche und moralische Gedichte“ (1782) von Johann Traugott Plant, erschienen bei Johann Sigismund Kaffke; darin befindet sich das Gedicht „Lied einer alten verliebten Jungfer“ [vgl. J.T.P.: Launenhafte, zärtliche und moralische Gedichte. Stettin 1782, S. 23-25], das Franz Blei um drei Strophen gekürzt und mit Varianten unter dem gekürzten Titel „Lied einer alten Jungfer“ in seine Anthologie „Fleurettens Purpurschnecke. Erotische Lieder und Gedichte aus dem achtzehnten Jahrhundert“ (1905) aufgenommen hatte [S. 55-57], unter fingiertem Verlagsort („Paphos“) und Jahr („im Jahr der Cythere 5091“) unter Pseudonym („gesammelt und herausgegeben von Franciscus Amadeus, M. A. Er.“) mit Zeichnungen von Franz von Bayros im Privatdruck bei C. W. Stern in Wien herausgegeben. Franz Blei, der in Wedekinds Gedicht „Ave Melitta!“ [vgl. Die Fackel, Jg. 7, Nr. 182, 9.6.1905, S. 23; vgl. KSA 1/I, S. 534f.] „offenbar ein Plagiat vermutete“ [KSA 1/I, S. 1060], hat ihm das im Brief zitierte Gedicht daher abgeschrieben (siehe die Hinweise zur Datierung). Schon vorher hatte es Streit gegeben, wie Wedekind am 9.5.1905 notierte: „Nach Krakel mit Blei in der Torggelstube.“ [Tb]: Launenhafte, zärtliche und moralische Gedichte, von J. T. P. Stettin 1782 finde ich folgendes


Lied„Lied einer alten verliebten Jungfer“ (1782) und „Lied einer alten Jungfer“ (1905) weisen Varianten auf (siehe oben), untereinander (so schon im Liedtitel) und zur vorliegenden Abschrift, die im Folgenden mitgeteilt sind. einer alten verliebten Jungfer.

Allen„Allen“ bis „gewidmet.“ Variante 1905: fehlt.
in ähnlichem Zustande seufzenden Seelen
gewidmet.Variante 1782: gewidmet. / In eigner Melodie.

Variante 1905: fehlt.


Schon viele Jahre quäl ich mich im Stillen
Um einen Mann!
WannVariante 1782: Wenn. wird Andreas‚der Männliche‘ oder ‚der Mannhafte‘ (aus dem Griechischen abgeleiteter Vorname). mein Gebet erfüllen
Und hört mich an!

Wie lange soll ich armes DingVariante 1905: Kind. noch weinen
Verschmäht, veracht? –
WennVariante 1905: Wann. wird der langersehnte Tag erscheinen
Mit seiner Nacht?Variante 1782: Rosts schöne Nacht. (= Anspielung auf das erotische Gedicht „Schöne Nacht“ von Johann Christoph Rost). Variante 1905: Und seine Nacht?

Wenn Jünglinge mit andern Mädchen spielen
Im Frühlingshain,
Und ihre Lust auf Rosenlippen kühlen
Bin ich allein.

Dann schmachte ich voll Sehnsucht nach dem Glücke
Geliebt zu sein;
Doch niemand sieht auf meine Liebesblicke
Und hört mein Schrein.

Wie gräm ich mich des Nachts in meinem Bette
Von Liebe tollVariante 1782, 1905: voll.Variante 1782, 1905: voll
Ach! – wenn ich nur ein einzges Männchen hatteVariante 1782, 1905: hätte.Variante 1782, 1905: hätte
Von siebenVariante 1782: funfzig. Variante 1905: fünfzig. Sieben Zoll entsprechen 17,78 cm. Die in den beiden gedruckten Fassungen genannten 50 Zoll entsprechen 1,27 m. Zoll.

Ich putze mich, ich thürme meine Haare
Hoch in die Luft
Ich balsamiere meines Busens Waare
Mit süssem Duft.

∙/∙ |

Mit Flor und BänderSchreibversehen, statt: Bändern. schmück ich mein Gesichte
Mit fremder Zier:
Und dennoch nennt mich FritzchenVariante 1782, 1905: Daphnis. bei dem Lichte
Ein altes Thier.Variante 1782: Thier. // Und eine Katze hies mich jüngst Leander – / Ein Krokodill, / Ein liebend Murmelthier nennt mich voll Spott Menander / Und ein Pasquill. // Mein Stand, mein Herz, mein schmachtendes Bestreben / Wird mir verhöhnt, / Der Spötter Blick verlacht und kürzt mein Leben / Mit Schmach gekrönt. // Ach wollte sich doch Einer nur erbarmen! – / Und nehme mich, / Als Ehefrau mit süssen Hymens-Armen / Nur ganz zu sich. – //Variante 1782: Thier. || Und eine Katze hies mich jüngst Leander – | Ein Krokodill, | Ein liebend Murmelthier nennt mich voll Spott Menander | Und ein Pasquill. || Mein Stand, mein Herz, mein schmachtendes Bestreben | Wird mir verhöhnt, | Der Spötter Blick verlacht und kürzt mein Leben | Mit Schmach gekrönt. || Ach wollte sich doch Einer nur erbarmen! – | Und nehme mich, | Als Ehefrau mit süssen Hymens-Armen | Nur ganz zu sich. – ||

Welch eine Glut durchwühlt mein armes Herze
Und zehrt es ab.
Ich diene nur den Jünglingen zum Scherze
Bis in mein Grab

Komm Charonin der griechischen Sage Fährmann in der Unterwelt., komm, und fahre mich von hinnen
Du alter Schnipps„ein springinsfeld [...]; ein unausgewachsener naseweiser junge [...]; ein kleiner mensch“ [DWB, Bd. 15, Sp. 1341].!
Denn sonst verlier ich alle meine Sinnen
Und sterb am Pipps„die verstopfung der nase mit verhärteter zungenspitze beim federvieh, dann auch eine damit ähnliche krankheit der menschen, besonders ein den anfang einer krankheit bezeichnendes unwolsein“ [DWB, Bd. 13, Sp. 1866]..


HerGruss
Dein Blei

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 1 Blatt, davon 2 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 21 x 33 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 11.6.1905 ist als Ankerdatum gesetzt – ein mögliches Schreibdatum, bald nach Erscheinen von Wedekinds Gedicht „Ave Melitta!“ [vgl. Die Fackel, Jg. 7, Nr. 182, 9.6.1905, S. 23], das Franz Blei zur Abschrift des Gedichts „Lied einer alten verliebten Jungfer“ von Johann Traugott Plant aus dem Band „Launenhafte, zärtliche und moralische Gedichte“ (1782) in seinem Brief veranlasste, das er wiederum als „Lied einer alten Jungfer“ in seine Anthologie „Fleurettens Purpurschnecke“ (1905) aufgenommen hatte. Wedekinds Gedicht hat vielfache Quellen. „Die Verse stellen eine Parodie auf das christliche ‚Ave Maria‘ [...] dar. Die Wendung des christlichen Ideals weiblicher Keuschheit in die drängende Bitte nach einem Sexualpartner entspricht einem beliebten Topos der erotischen Volksliteratur, der vielfach nachzuweisen [...] ist. Nicht ausschließen läßt sich [...] der Einfluß eines Liedes von J.[ohann] T.[raugott] P[lant], auf das Franz Blei Wedekind – sehr wahrscheinlich unmittelbar nach Erscheinen des Erstdrucks – aufmerksam machte. Blei, der offenbar ein Plagiat vermutete, sandte Wedekind eine Abschrift des Textes zu [...]. Weitere, inhaltlich ähnliche Bearbeitungen des Topos belegen jedoch, daß sich eine Zurückführung des Wedekindschen Gedichts auf die von Blei unterstellte Textvorlage nicht eindeutig vornehmen läßt.“ [KSA 1/I, S. 1060-1062]

  • Schreibort

    München
    11. Juni 1905 (Sonntag)
    Ermittelt (unsicher)

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 18
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Franz Blei an Frank Wedekind, 11.6.1905. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Cordula Greinert

Überarbeitet von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

14.09.2024 10:15