Schloß Lenzburg, 29. April 1885.
Lieber Franklin!
Gestern Nachmittagam 28.4.1885., als ich von einem Besuch der
ethnologischen AusstellungFotoausstellung der Mittelschweizerischen Geographisch-Commerziellen Gesellschaft im Saalbau in Aarau vom 13. bis 30.4.1885 [vgl. Fernschau. Jahrbuch der Mittelschweizerischen Geographisch-Commerziellen Gesellschaft in Aarau. Bd. 1. Aarau 1886, S. XXX]. in Aarau zurückkam, übergab man mir auf der Post
auch Deinen l.
Brief von vorgestern, den ich und die Deinigen dann mit Interesse gelesen
haben. Indem übermorgen schon der erste Mai ist und ich deshalb wegen der Kürze
der Zeit mir vorbehalte, Dir demnächst ausführlicher zu schreiben, will ich
nicht verfehlen, Dir gleich heute das für den Monat Mai nothwendige Geld zu
senden. Demgemäß erfolgt anbei in verschiedenen Couponsdie Zinszahlungen aus festverzinsten Wertapieren. und ausges/l/oosten
AntheilscheinenWertpapiere, die für einen bestimmten Zeitraum zu dem angegebenen Nennwert eingelöst werden können. und außerdem noch pr PostmandatFormular zur Einziehung von Geldbeträgen über Postämter. die Gesammtsumme von M 252; nämlich:
1. Zurück Dein Darlehen an Armin im Betrage von . . . . . M 36.
2. Für Collegiadie an die Professoren zu entrichtenden Hörergelder für den Besuch der Vorlesungen. im Sommersemester 1885 .
. . .
. . .
. " 72.
3. Für Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . "
19.
4. Monatsgeld pro Mai fr 5. oder M 4 pro Tag . . . . . .
. . " 124.
5. Wechselgebühr an den Bankier . . . . . . . . . . . . . "
1.
––––––––––
M 252.
Von dieser Summe erfolgt hier anliegend einmal in 13 Stück
verfallenefür: aufgeteilte. Coupons, wie solche auf dem dieselben enthaltenen Couvertnicht überliefert. näher
bezeichnet,
der Betrag von . . . . . . . . . . . . . . . . . . M. 110.25 ₰
und sodann, ebenfalls anbei, in 6 Stück Antheilscheinen des Her-
zogthums
Sachsen Meiningen à fl. 7 oder 4 rh und zwar Serie 4890,
Nro 14; 22; 23; 24;
25; 31;, welche am 1. Febr. d. J. mit dem nie-
drigsten Betrag von je fl. 8 ausgeloost wurden und
übermorgen, 1. Mai,
ausbezahlt werden, der Ertrag davon (6 × 8 fl = fl. 48 oder . . . . . .
" 82.28
–––––––––––––––––
Summa M. 192.53 ₰
[um 90 Grad gedreht:]
2 –– 48 fl
7 = 4 rh
1 = 3 M
–––––––––
12
–––––––––
7/576/82 + |
Der bayerische Staatsanleihe-Coupon von M 20 kann bei einer
dortigen Staatskasse, die übrigen Coupons und Scheine aber nur bei einem
Bankier eingelöst werden. Wechsle dieselbe sobald als möglich, verliere, weil
einige davon sehr klein sind, keinen und gib Acht, daß Du vom Bankier auch die
auf dem Coupon-Couvert, in welchem Du sie übergeben kannst, specificirten
Einzelbeträge auch richtig überkommsterhältst..
Von der Gesammtsumme von M 252, die ich Dir zu senden habe, fehlen nun aber
noch M 59.50 ₰ oder in Franken (M 100 = fr. 124) noch fr. 73.78, welche ich in
einem Postmandat von rund fr. 74. ebenfalls heute gleichzeitig mit diesem Briefe an Dich der Post
übergeben werde. Diesen Betrag etwa in Gold mit in den Brief einschließen ist
nicht erlaubt, denn Metallgeld und Papiergeld dürfen nicht zusammen verpackt
werden.
Hiermit wird nun wohl, was die Geldsendung anlangt, alles in
Richtigkeit sein und erübrigt es nur noch, daß Du von diesem Geld den richtigen
Gebrauch machst und dasselbe Dir für Deine Studien von Nutzen sein wird. Bedenke, daß die
Zeit schnell verrinnt und Du den sechsten TheilFrank Wedekind befand sich am Beginn des zweiten Semesters seines Jurastudiums, der Vater ging also von einer Studienzeit von drei Jahren aus. Deiner Studienzeit auf der
Universität schon hinter Dir hast. Deshalb sei fleißig!
Seit dem 1. März war ich hier immer draußen an der Arbeit,
auf die verschiedenste Weise und gottlob immer bei günstigem, trocknen Wetter
beschäftigt, hatte während fünf Wochen mit kurzen Unterbrechungen von 2 – 3
Tagen bald 8, bald 10 Sträflinge aus der kantonalen Strafanstalt Lenzburg, „damals die fortschrittlichste schweizer. Vollzugsanstalt, in welcher die Prügelstrafe verboten war und ein Gefangenenlohn eingeführt wurde“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 65f.]. Friedrich Wilhelm Wedekinds Praxis, sich Sträflinge als Arbeitskräfte für Arbeiten rund um das Schloss zu mieten, beschrieb Frank Wedekind zu Beginn seiner Erzählung „Der Brand von Egliswyl“ [vgl. KSA 5/I, S. 172f.].nebst den Rebleuten(schweiz.) Arbeiter im Weinbau, Winzer. und einigen andern
Arbeitern, und nachdem das meiste beendigt ist, ist FischerBediensteter auf Schloss Lenzburg [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 68]. jetzt daran, auch
den Hof und Garten vollends in Ordnung zu bringen. Seit Mitte März haben wir sehr wenig Regen gehabt,
meist Ostwind, dabei aber gewöhnlich bedeckten Himmel, so daß, seitdem nun seit
einigen Wochen auch die Wärme zugenommen hat, die Vegetation doch sichtlich
vorwärts kam, die Obstbäume in strotzender Blüthe dastehen und die Reben sich
sehr schön entwickeln. Am Tage des SechseläutensDas traditionelle Zürcher Frühlingsfest mit den Umzügen der Zünfte fand am 20.4.1885 statt., dem ich mit Doda bei|wohnte,
hatten wir über 20° R.20 Grad Réaumur entsprechen 25 Grad Celsius.
und haben seitdem immer noch von 13° bis 18° Rentspricht etwa 16 bis 22 Grad Celsius., deshalb auch nicht mehr eingeheizt; gestern und
heute droht Gewitter.
Mati war seit dem 15. d. M., dem Tage nach ihrem Ferienanfang, eine
ganze Woche lang an der Mundfäule krank, und ist eben im Begriff mit Mama nach
Aarau zu fahren, um sich einen Backenzahn ausziehen zu lassen. Sie läßt Dich
herzlich grüßen, ein gleiches thun auch die andern, mit Ausnahme von Doda, der
schon seit sechs Tagen auf Schloß BruneggDas in Sichtweite von Schloss Lenzburg gelegene, rund 7 km entfernte Schloss Brunegg war 1815 von Friedrich Hünerwadel aus Lenzburg erworben worden. Donald Wedekind war dort häufiger zu Gast [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 17.8.1885]. zu Besuch ist, vor allen aber, indem
er Dir zuruft, bleibe gesund und sei fleißig,
Dein treuer Papa.