Schloß Lenzburg, 31. December 1885.
Mein lieber Bebifamilieninterner Kosename für Frank Wedekind.!
Zunächst entbiete ich Dir meinen innigsten, aufrichtigsten
und väterlichsten Glückwunsch zum Neuen Jahr und hoffe, daß Du dasselbe froh,
munter und gesund und mit den besten Vorsätzen in Betreff Deiner Zukunft
antreten wirst. Nachdem Dein FußleidenWedekind hatte sich am 3.8.1885 eine Rotlaufinfektion am linken Unterschenkel zugezogen, die längere Zeit im Krankenhaus behandelt werden musste. Er unterrichtete seinen Vater darüber erstmals Mitte August [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 12.8.1885]. nun wohl vollkommen geheilt sein wird
und keine nachtheiligen Folgen davon mehr zu befürchten sind, möchte ich Dich
nur noch auf den Zustand Deiner Zähne aufmerksam machen, denn alle meine
Wünsche für Dein zukünftiges Wohlbefinden nützen nichts, wenn Du selbst nicht
auch die nöthige Sorge trägst, Deine Gesundheit zu erhalten. Und da möchte ich
Dir einen guten Rath geben, nämlich einen zuverlässigen Arzt oder
Apotheker zu consultiren, damit er Dir ein Mundwasser verschreibt oder gibt,
das der Zahnkaries so viel als möglich Einhalt thut, und womit Du etwa dreimal täglich,
namentlich nach dem Essen, den Mund ausspülst. Wie Du weißt existiren bei jedem
Menschen in der Mundhöhle, vorzugsweise am Zahnfleisch und in etwaigen hohlen
Zähnen eine ganze Menge von Pilzen und die müssen vertilgt oder wenigstens auf ein Minimum reducirt werden,
will man nicht den gänzlichen Verlust seiner Zähne riskiren. So oft ich mich rasire,
wasche ich den mit Seifenschaum getränkten Pinsel in meinem Glas Mundwasser
aus, gieße einige Tropfen Brantwein hinzu und spüle mir dann damit den Mund
aus. Es ist dies außerordentlich erfrischend, beseitigt nicht nur die meisten
gewöhnlichen Mund-Unreinigkeiten und schwemmt viele Bakterien mit hinweg,
sondern tötet vielleicht auch diejenigen, welche sich in den Vertiefungen der
Zähne festgesetzt
haben. Bis Du ein besseres Mundwasser hast, mache Dir selbst ein solches, indem
Du in einem Schoppen Brantwein etwa ein Nußgroßes Stück Seife, welches Du aber
vorher mit dem Messer dünn schaben mußt, auflösest, dann in eine keineSchreibversehen, statt: kleine. Flasche thust
und von diesem Seifenspiritus jeden Morgen, oder auch mehrere Male am Tage,
etwa einen halben Theelöffel voll in Dein Mundwasser tropfest und sodann den
Mund damit ausspülst. Was die Seife im Munde nicht auflöst und beseitigt, das thut
der Spiritus und weil erstere doch auch Kali enthält, so dient dies Mundwasser
theilweise auch | zur Beseitigung der Dir angebornen Säure im Mund und Magen.
Es versteht sich von selbst, daß vor dem Gebrauch, also dem Eintröpfeln in das Glas
Wasser, Du diesen Seifen-Brantwein immer gehörig in der Flasche schütteln mußt,
damit sich Seife und Brantwein um so inniger mischen. Du wirst mich
entschuldigen, wenn ich gleich nach meinenSchreibversehen, statt: meinem. Neujahrswunsche mit Recepten für
Erhaltung Deiner Zähne komme, aber wenn ich wie heute, wie an d/D/einer
Geschwister so auch an Deine Zukunft und Euer Wohlergehen denke, so ist nichts
natürlicher, als daß ich auch auf dessen Erhaltung bedacht bin. Es sollte mir
nämlich unendlich leidthun, wenn Du durch den allmähligen Verlust Deiner Zähne
auch allmählig Deine bis jetzt nicht nur ganz tadellose, sondern sogar sehr
schöne Aussprache einbüßen solltest, auf welche wir alle stolz sind und die von
Vielen gerühmt wird, und welche vorzugsweise dazu dienen muß, Dir demnächst im Leben
mit fortzuhelfen; das bedenke, lieber Bebi. – Besten Dank für d. schöne
Weihnachtsbescheerung, womit Du mich bedacht hast, ich werde das Bildeine Reproduktion des Rundgemäldes der „Madonna della Sedia“ von Raffael [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm und Emilie Wedekind, 21.12.1885]. hoch
ehren und baldigst mit Glas und Rahmen versehen; Appenzeller in Zürichdie Kunst- und Schreibmaterialienhandlung von Heinrich Appenzeller in Zürich (Rathausplatz 26) [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich für 1886, Teil I, S. 19]. hat
solche italienischen photographischen Reproductionen hervorragender Gemälde
öfters im Fenster und jedesmal betrachte ich sie mit besonderm Interesse. Weil
Du Dich nun aber mit diesem und dem andern für Mama bestimmten GeschenkKlavierauszüge, vermutlich zu Opern von Mozart [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm und Emilie Wedekind, 21.12.1885]. in
Unkosten gesetzt hast, so halte ich es für meine Pflicht, Dir solche zu remboursirenzu begleichen, zurückzuerstatten.
und lege Deinem heutigen Monatsgeld von fr. 150 noch weitere fr. 12 bei. Es erfolgen demnach hier anliegend in
Couvert:
1, 3 bayerische Staatsobl. Couponsdie Zinszahlungen aus festverzinsten Staatsanleihen. pro(lat.) für. 1. Juli 85 und zwar Ser. 1628; No 40677; Ser.
1707, No 42653 u Ser. 1991, No 49755 à M 40 = . .
. . . . M. 120.
2, 1 preuß. Staatsobl. Coupon pro 2 Jan. 1886; No 300574 à . .
. . .
. " 10
M 130. .
welche Du schon übermorgen einlösen kannst, und zwar die bayerischen
bei irgend einer Staatskasse, den preußischen aber bei einem Bankier. Thue das
aber sofort, damit mitSchreibversehen, statt: damit. Du nicht so leicht diese Coupons, die doch so klein
sind, verlierst.
Mama und die Anderen werden Dir wohl alle Neuigkeiten von
hier mitgetheilt habenüberliefert sind Briefe der Mutter und von Wedekinds Schwester Emilie (Mati) [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind 23.12.1885 und 30.12.1885; Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 19.12.1885 und 31.12.1885]., deshalb beschränke ich, zumal ich am Jahresschluß noch
viel anderes zu schreiben habe, mich auf diesen halben Bogen und rufe Dir nur
nochmals ein herzliches Glückauf zum Neuen Jahr zu.
Dein immerfort treuer Papa
NB. Ich meinte oben ein Wallnuß großes
Stück Seife, denn die Flüssigkeit muß ziemlich consistent sein. Meine
Weihnachts-GeldsendungHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 23.12.1885. und mein Paquet wirst Du erhalten haben.