Zürich, 17.XI.87.
Lieber Papa,
erlaube mir, daß ich, eh ich meiner Bitte Erwähnung thue Dir
einige Rechenschaft über mich ablege. Nachdem mich Doda vor einem MonatDonald Wedekind hatte Ende September bei seinem Bruder angefragt, ob er ihn Ende September, Anfang Oktober für eine Woche besuchen könne [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 26.9.1887] und war demnach in der zweiten Oktoberwoche bei ihm in Hottingen.
verlassen hatte, nahm ich eine größere Arbeitdie Überarbeitung bzw. Neufassung des bereits Ende 1885 begonnenen Stücks „Der Schnellmaler oder Kunst und Mammon“, eine „Große tragikomische Originalcharakterposse in drei Aufzügen“ [vgl. KSA 2, S. 545-547], das 1889 erschien. In einem Notizbuch von 1910 vermerkte Wedekind später: „Herbst 1887 [...] Donald wohnt bei mir. Schreibe Schnellmaler. Bis in Früling 1888.“ [Nb 63, S. 73r]. an die Hand, die ich seither zum
Drittel vollendete. Außerdem hab ich täglich CollegienVorlesungen an der Universität Zürich; als Jurastudent eingeschrieben war Wedekind allerdings erst ab dem Sommersemester 1888 [vgl. Matrikeledition der Universität Zürich 1833-1924; https://www.matrikel.uzh.ch/active/static/23375.htm]., meistens historischen
InhaltsWelche Veranstaltungen Wedekind besucht hat, ist nicht ermittelt. Laut Vorlesungsverzeichnis waren folgenden Vorlesungen der philosophischen Fakultät für die Öffentlichkeit zugelassen: „System der Philosophie im Umriss, zweimal wöchentlich, Mittwoch und Samstag von 11–12 Uhr“ bei Prof. Dr. Frohschammer, „Shakespeare im Licht der vergleichenden Literaturgeschichte, Mittwoch von 4–5 Uhr“ bei Prof. Dr. Carriere, „Interpretation von Molière’s Tartufe, zweimal, im Seminar“ bei Prof. Dr. Breymann, „über Wissenschaft und Religion, einstündig von 5–6 Uhr“ bei Privatdozent Dr. Güttler und „Geschichte Alexander d. Gr., mit besonderer Rücksicht auf die Geographie des Orients, zweimal“ bei Privatdozent Dr. Oberhummer [vgl. Verzeichnis der Vorlesungen an der königlichen Ludwig-Maximilians-Universität zu München im Winter-Semester 1887/77. München 1887, S. 11-17]. besucht. Das Honorar, das ich indessen derweil
für | frühere ArbeitenIn der „Neuen Zürcher Zeitung“ war kurz zuvor Wedekinds Charakterskizze „Gährung“ [KSA 5/I, S. 21-36] in mehreren Teilen erschienen [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 67, Nr. 285, 13.10.1887, 1. Blatt, S. 1f.; Nr. 286, 14.10.1887, 1. Blatt, S. 1f.; Nr. 287, 15.10.1887, S. 1f. und Nr. 290, 18.10.1887, 1. Blatt, S. 1f.]. Bereits im Mai war an drei aufeinanderfolgenden Tagen vom 4. bis 6.5.1887 dort Wedekinds Essay „Der Witz und seine Sippe“ [KSA 5/II, S. 82-93] erschienen [vgl. vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 67, Nr. 123, 4.5.1887, 2. Blatt, S. (1-2), Nr. 124, 5.5.1887, 2. Blatt, S. (1-2), Nr. 125, 6.5.1887, 2. Blatt, S. (1-2); KSA 5/III, S. 206], sowie Ende Juli sein Essay „Zirkusgedanken“ [KSA 5/II, S. 94-106; vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 67, Nr. 209, 29.7.1887, 1. Blatt, S. (1-2), 2. Blatt, S. (1-2), Nr. 210, 30.7.1887, S. (1-2); KSA 5/III, S. 902]. „Um welche Arbeiten von Basel es sich handelt, konnte bislang nicht eruiert werden.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 129] Mit den beiden Essays aus Zürich hatte sich Wedekind im Sommer bei den „Basler Nachrichten“ beworben [vgl. Wedekind an Emanuel Wackernagel, 5.8.1887]. von Basel und der N. Z. Ztg. erhielt, konnte ich leider nur ei/zu/
einem geringen Theil für mich verwenden. Wenn ich indessen fortgefahren hätte
für den Tag zu arbeiten so wär ich natürlich keineswegs in Verlegenheit
gekommen. Aber wie gesagt, ich widmete meine Zeit einer Arbeit, von der ich
einen bedeutenderen Erfolg erwarte, als man aus Zeitungsartikeln hoffen erndten kann. Vor dr acht Tagen nun, als ich mit meinem
Gelde zu Rande war, hab ich doch gleich | wieder eine kürzere ErzählungDie Erzählung „Ein böser Dämon“ [KSA 5/I, S. 77-93 u. S. 524f.], die zu Wedekinds Lebzeiten jedoch nicht gedruckt wurde.
geschrieben. Die Bis sie aber gedruckt ist mag es noch einige Zeit
gehen. Ich schrieb sie in 5 Tagen und sie ist mindestenSchreibversehen, statt: mindestens. dreimal besser als die vorigevermutlich die Charakterskizze „Gährung“ (s. o.). Die Erzählung „Marianne. Eine Lebensgeschichte“ [KSA 5/I, S. 37-76] war im Juni 1887 von mehreren Zeitungen abgelehnt und zuvor bereits von Wedekinds Mutter einer ausführlichen Kritik unterzogen worden [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 10.5.1887].. Du wirst das selber am
besten beurtheilen können. Aber wenn Du siehst, das ichSchreibversehen, statt: dass ich. Fortschritte mache,
dann bitte las michSchreibversehen, statt: laß mich. nur noch kurze Zeit in dieser Weise arbeiten.
Worum ich Dich bitten wollte ist eine Erhöhung meines
Monatsgeldes von 100 auf 125 Frs. Ich bezahle 75 Frs. für Kost und Logis und wenn ich dann | noch 10 frs. für Feuerung, 8 für
Ausbesserung meines Winterüberziehers 3 für Wäsche rechne so ist der Rest durch
Schreibmaterialien Tabak und etwaiges Bier rasch aufgezehrt.
Ich bitte dich noch einige Geduld mit mir zu haben. Sehr
gute Schüler die ein Jahr vor mir die Maturität absolvirt haben, wie mein
Freund Ernst ZschokkeErnst Heinrich Zschokke, Wedekinds Mitschüler an der Kantonsschule Aarau, promovierte 1889 an der Universität Zürich; in der Vita zu dieser Arbeit schrieb er: „Nach zwei Jahren des Progymnasiums und vier Jahren Gymnasium in Aarau bestand ich 1883 die Maturitätsprüfung und wandte mich nach Genf, wo ich dem Studium der französischen Sprache und Litteratur oblag. Die germanistische Philologie, der ich mich widmen wollte, führte mich nach München [...] von da kam ich nach Leipzig [...] und dann nach Berlin [...]. Von Berlin kehrte ich in die Schweiz zurück und ließ mich im Frühjahr 1886 an der hiesigen Universität inscribieren, wo ich bis heute verblieb (mit Ausnahme des Sommersemesters 1887, das ich, beurlaubt, im Militärdienst zubrachte).“ [Ernst Zschokke: Der Toggenburger Epigrammatiker Johannes Grob (1643-1697). Aarau 1889, o. S.] und andere, haben seither noch nicht einmal einen philosophischen Doctor
gemacht. Anderen gelingt es freilich schneller Ich hoff es aber doch im Leben |
auch ein wenig weiter zu bringen als bis zum aargauischen Regierungsrath oder
was dergleichen. Ich mag mich s/j/a selbst überschätzen. Aber bis jetzt
hab’ ich noch keinen Beweis dafür. Sind meine Gedichte auch nicht ganz so schön
wie die von Carl Henkell so hab ich doch auch manches ganz hübsche gemacht.
Indessen hab’ ich meine Zeit darauf verwendet andere Gebiete der Poesie zu
erobern. Meine j/d/emnächst erscheinende ErzählungDie zu Lebzeiten Wedekinds unpubliziert gebliebene Erzählung „Ein böser Dämon“ (s. o.). muß Dir zeigen daß
ich etwas gelernt habe. Und so gut wie ich dies erlernt habe | hoffe ich auch
noch anderes erlernen zu können. Ich glaube nicht daß es mir an Talent fehlt
und an ernstem Fleiß soll es mir auch nicht fehlen. Außerdem trau’ ich mir auch
den praktischen Sinn zu, um zu wissen, auf welchem Wege etwas zu auch in
pecuniärer Beziehungauf Geld bezogen, in finanzieller Hinsicht. zu erreichen ist. Novellen schreiben möcht ich mein Leben
lang ebenso wenig wie Steine klopfen. Aber man muß es können und verstehen
damit man sich nicht von jedem Gartenlaubenschmieraxabfällig für die Autoren und Autorinnen von Unterhaltungsliteratur in der populären Zeitschrift „Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt“. braucht über die Achsel
ansehen zu lassen. |
Wenn Du mir noch für den Rest dieses Monats 25 frs zukommen lassen
wolltest, so wäre ich Dir sehr dankbar.
Mit herzlichem Gruß Dein
Dankbarer Sohn
Franklin
Schönbühlstraße 10.
[Kuvert:]
Herrn
Dr. Wedekind.
Schloss Lenzburg.
(Aargau.)