Herrn
Dr. Wedekind auf Schloss Lenzburg
in Hochachtung und Ehrerbietung
sein Sohn Franklin.
Für den Anzug und die Stiefel bitte ich Dich, meinen Dank
hinzunehmen. Ich brauchte beides sehr nothwendig; aber die Mittel fehlten mir,
um es mir selber anzuschaffen. Dein Mitleid giebt mir den Muth, Dir das zu
schreiben, Dir überhaupt zu schreiben. Ob dieser Schluß nicht dennoch voreilig
ist, kann ich nicht wissen. Trotzdem will ich es wagen. Wenn Du mir diese Zeilen
zurückschickst, so werde ich dein Geschenk als ein Almosen hinnehmen müssen und
habe dabei nicht das Recht, mich über irgend etwas zu beklagen.
Seit drei Tagen denke üb/ich/ über diesen Brief nach.
Ich darf Dich nicht Vater nennen; ich habe jeden | Anspruch darauf verloren.
Ich hätte auch niemals gehofft, daß du mir verzeihen würdest. Solltest Du es
nun trotz allem thun, so glaube mir, daß ich Deine unendliche Güte heilig zu
halten weiß.
Bevor ich mir Deine theure Verzeihung erbitte, sollte ich
etwas zu meiner Entschuldigung anführen. Aber was kann mich entschuldigen? –
Das einzige wäre der Umstand, daß sich meine Aufregung damalsim Herbst 1886: „Am 16.8.1886 kehrte Wedekind nach Lenzburg heim und gestand nach insistierendem Nachfragen seitens seines Vaters in den folgenden Wochen seinen Eltern, sein Jura-Studium vernachlässigt zu haben. Die Kunde davon, dass er an einem Drama schreibe, war zuvor längst nach Lenzburg gedrungen. Es kam zum Streit und Bruch mit dem Vater, der ihm jede finanzielle Unterstützung verweigerte.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 116f.] von Tag zu Tag
gesteigert hatte, daß ich alles in mir verschloß, bis ich meiner S/s/elbst
nicht mehr mächtig war. Ich ersuche Dich inständig, mein VerbrechenArtur Kutscher berichtete, Wedekind habe sich „in seiner Erbitterung und Verzweiflung [...] zu einem tätlichen Angriff hinreißen“ lassen, was „auf lange Zeit alle Beziehungen“ zum Vater „vernichtete“ [Kutscher 1, S. 144]. von dieser
Seite zu betrachten. Du mußt mich sonst für so entsetzlich schlecht halten, daß
Du Dich nie anders als mit dem größten Abscheu meiner erinnern könntest
Und nun laß mich bitten, daß Du mir verzeihen mögest, daß Du
Dir Mühe geben mögest meiner greulichen Unthat nicht mehr zu gedenken. Es ist
eine übermenschliche Wohlthat, die Du mir dadurch erweisen würdest und ich bin
der Unwürdigste, sie zu empfangen. Ich habe Dir nichts dafür als geringstes
Entgelt zu bieten. Es wäre nichts als reine, große Güte von Dir. Ich verdiene
sie nicht. Ich habe alle Aussicht darauf verscherzt. Ich kann | nur bitten,
Dich flehentlich darum bitten. Wenn Du mich abweist so darf ich nicht murren,
und wenn Du mich aufnimmst, so werd ich das Bewußtsein meiner Schuld noch
furchtbarer empfinden, als es bis jetzt der Fall war. Ich habe mich in einer
Weise vergangen, die mich Dir gegenüber zum allerelendesten Menschen macht.
Ich habe im verflossenen Jahr Zeit genug zur Reue gehabt und
werde noch mein ganzes Leben Zeit dazu haben. Vielleicht würde es Dir leichter,
mir zu vergeben, wenn Du wüßtest, was ich letzten Herbst und diesen Sommer
darunter gelitten haben. Möglich auch, daß ich mich indessen zum guten
geändert habe. Ich weiß es nicht aber ich hoffe es. Wenn Du auch das in
Betracht ziehen wolltest, würde es vielleicht Deine Güte vor Dir selber
rechtfertigen helfen.
Wenn Du mir verzeihen willst, so bitte ich Dich noch darum,
Dich in nächster Zeit hier oder in Lenzburg sehen, und dann meine Bitte
mündlich wiederholen zu dürfen. Ich weiß zwar noch nicht, woher ich, trotz
einer Erlaubniß von Deiner Seite, den Muth dazu nehmen soll. Ich weiß, daß Dir
mit meinem Anblick der schreckliche Moment wieder deutlich vor die Seele |
treten wird. Ich werde Dir nicht in’s Auge sehen können und Du wirst von neuem
den gerechtesten Abscheu empfinden. Wenn Du meinst, Du könnest mich noch nicht
sehen, dann bitte, laß es mich wissen. Ich muß mit allem Z/z/ufrieden
sein.
Und nun noch einmal, bitte, verzeih mir. Ich wußte nicht was
ich that; ich war verblendet, verwirrt und aufs äußerste aufgeregt. Wenn du
mich von Dir stößt, so hab’ ich nichts mehr zu verlieren. Von Jahr zu Jahr
würd’ ich schwerer daran tragen. Mein ganzes Leben wäre in scheußlichster Weise
besudelt und verflucht. Nimm im Voraus meinen innigsten herzlichsten Dank dafür
hin und verzeih Deinem in Ergebenheit und Ehrfurcht harrenden Sohn
Franklin.
Zürich 19.IX 87.
Schönbühlstraße 10.
[Kuvert:]
Herrn Dr. Wedekind.
Schloss
Lenzburg.
fr.Der Hinweis ‚franco‘ (frei) verweist darauf, dass Frank Wedekind das Briefporto bezahlt hat.