Kennung: 5525

Zürich, 19. September 1887 (Montag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Friedrich Wilhelm

Inhalt

Herrn Dr. Wedekind auf Schloss Lenzburg

in Hochachtung und Ehrerbietung

sein Sohn Franklin.


Für den Anzug und die Stiefel bitte ich Dich, meinen Dank hinzunehmen. Ich brauchte beides sehr nothwendig; aber die Mittel fehlten mir, um es mir selber anzuschaffen. Dein Mitleid giebt mir den Muth, Dir das zu schreiben, Dir überhaupt zu schreiben. Ob dieser Schluß nicht dennoch voreilig ist, kann ich nicht wissen. Trotzdem will ich es wagen. Wenn Du mir diese Zeilen zurückschickst, so werde ich dein Geschenk als ein Almosen hinnehmen müssen und habe dabei nicht das Recht, mich über irgend etwas zu beklagen.

Seit drei Tagen denke üb/ich/ über diesen Brief nach. Ich darf Dich nicht Vater nennen; ich habe jeden | Anspruch darauf verloren. Ich hätte auch niemals gehofft, daß du mir verzeihen würdest. Solltest Du es nun trotz allem thun, so glaube mir, daß ich Deine unendliche Güte heilig zu halten weiß.

Bevor ich mir Deine theure Verzeihung erbitte, sollte ich etwas zu meiner Entschuldigung anführen. Aber was kann mich entschuldigen? – Das einzige wäre der Umstand, daß sich meine Aufregung damalsim Herbst 1886: „Am 16.8.1886 kehrte Wedekind nach Lenzburg heim und gestand nach insistierendem Nachfragen seitens seines Vaters in den folgenden Wochen seinen Eltern, sein Jura-Studium vernachlässigt zu haben. Die Kunde davon, dass er an einem Drama schreibe, war zuvor längst nach Lenzburg gedrungen. Es kam zum Streit und Bruch mit dem Vater, der ihm jede finanzielle Unterstützung verweigerte.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 116f.] von Tag zu Tag gesteigert hatte, daß ich alles in mir verschloß, bis ich meiner S/s/elbst nicht mehr mächtig war. Ich ersuche Dich inständig, mein VerbrechenArtur Kutscher berichtete, Wedekind habe sich „in seiner Erbitterung und Verzweiflung [...] zu einem tätlichen Angriff hinreißen“ lassen, was „auf lange Zeit alle Beziehungen“ zum Vater „vernichtete“ [Kutscher 1, S. 144]. von dieser Seite zu betrachten. Du mußt mich sonst für so entsetzlich schlecht halten, daß Du Dich nie anders als mit dem größten Abscheu meiner erinnern könntest

Und nun laß mich bitten, daß Du mir verzeihen mögest, daß Du Dir Mühe geben mögest meiner greulichen Unthat nicht mehr zu gedenken. Es ist eine übermenschliche Wohlthat, die Du mir dadurch erweisen würdest und ich bin der Unwürdigste, sie zu empfangen. Ich habe Dir nichts dafür als geringstes Entgelt zu bieten. Es wäre nichts als reine, große Güte von Dir. Ich verdiene sie nicht. Ich habe alle Aussicht darauf verscherzt. Ich kann | nur bitten, Dich flehentlich darum bitten. Wenn Du mich abweist so darf ich nicht murren, und wenn Du mich aufnimmst, so werd ich das Bewußtsein meiner Schuld noch furchtbarer empfinden, als es bis jetzt der Fall war. Ich habe mich in einer Weise vergangen, die mich Dir gegenüber zum allerelendesten Menschen macht.

Ich habe im verflossenen Jahr Zeit genug zur Reue gehabt und werde noch mein ganzes Leben Zeit dazu haben. Vielleicht würde es Dir leichter, mir zu vergeben, wenn Du wüßtest, was ich letzten Herbst und diesen Sommer darunter gelitten haben. Möglich auch, daß ich mich indessen zum guten geändert habe. Ich weiß es nicht aber ich hoffe es. Wenn Du auch das in Betracht ziehen wolltest, würde es vielleicht Deine Güte vor Dir selber rechtfertigen helfen.

Wenn Du mir verzeihen willst, so bitte ich Dich noch darum, Dich in nächster Zeit hier oder in Lenzburg sehen, und dann meine Bitte mündlich wiederholen zu dürfen. Ich weiß zwar noch nicht, woher ich, trotz einer Erlaubniß von Deiner Seite, den Muth dazu nehmen soll. Ich weiß, daß Dir mit meinem Anblick der schreckliche Moment wieder deutlich vor die Seele | treten wird. Ich werde Dir nicht in’s Auge sehen können und Du wirst von neuem den gerechtesten Abscheu empfinden. Wenn Du meinst, Du könnest mich noch nicht sehen, dann bitte, laß es mich wissen. Ich muß mit allem Z/z/ufrieden sein.

Und nun noch einmal, bitte, verzeih mir. Ich wußte nicht was ich that; ich war verblendet, verwirrt und aufs äußerste aufgeregt. Wenn du mich von Dir stößt, so hab’ ich nichts mehr zu verlieren. Von Jahr zu Jahr würd’ ich schwerer daran tragen. Mein ganzes Leben wäre in scheußlichster Weise besudelt und verflucht. Nimm im Voraus meinen innigsten herzlichsten Dank dafür hin und verzeih Deinem in Ergebenheit und Ehrfurcht harrenden Sohn
Franklin.


Zürich 19.IX 87.

Schönbühlstraße 10.


[Kuvert:]


Herrn Dr. Wedekind.

Schloss Lenzburg.

fr.Der Hinweis ‚franco‘ (frei) verweist darauf, dass Frank Wedekind das Briefporto bezahlt hat.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 3 Blatt, davon 5 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent. Empfängeradresse in lateinischer Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Rautiertes Papier. Doppelblatt. 4 Seiten beschrieben. Seitenmaß 21,5 x 27 cm. Kuvert. 1 Seite beschrieben. 14,5 x 11,5 cm. Alle gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben. Kuvert im Querformat beschrieben.
Sonstiges:
Das Kuvert ist mit einer aufgeklebten Briefmarke zu 10 Rappen frankiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Uhrzeit im Zwischenstempel Neumünster: „8“ (= 20 Uhr). Uhrzeit im Posteingangsstempel Lenzburg: „VII“ (= 7 Uhr).

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

(Band 1)

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
175-177
Briefnummer:
57
Kommentar:
Neuedition: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 207-209 (Nr. 85).
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 190
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 19.9.1887. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (03.12.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

07.10.2024 14:56