I. Januar 86.
Lieber Papa,
verzeih, daß ich Dir so spät auf deinen freundlichen
Neujahrsbriefvgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 31.12.1885. antworte und für die liebe Weinachtsbescheerung danke. Bald nach
Neujahr bekam ich nähmlich wahrscheinlich in Folge des starken
Wetterwechsels ein sehr hartnäckiges Zahnweh, das mich vierzehn Tage lang nicht
verließ, obschon ich fast jeden dritten Tag zum Zahnarztnicht ermittelt. ging. Zuweilen hatt’
ich auch Ohrenreißen und Rheumatismus nur in der ganzen linken Kopfhälfte bis
sich die Erkältung endlich auf eine Wurzelentzündung conzentrirte und ich | mir
durch Zahnausreißen Ruhe verschaffen konnte. Nachher hatt’ ich noch dies und
jenes N/n/achzuholen, wo zu allerdings auch in erster Linie eine Antwort
auf Deinen freundlichen Brief gehört hätte, für den ich Dir, lieber Papa,
meinen wärmsten Dank sage. Das Mittel zur Conservirung meiner Zähne hab’ ich
mir nach Deiner Anweisungvgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 31.12.1885. selber bereitet und hoffe davon den besten Erfolg.
Die fünfundzwanzig Markwohl „die Weihnachts-Geldsendung“ [Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 31.12.1885]. hab’ ich aufs beste verwendenSchreibversehen, statt: verwendet.. Unter anderem kauft’ ich
mir auch zwei BilderDie hier im Folgenden genannten Künstler – Michelangelo, Tizian und Rubens – zählten, neben Hans Makart, auch später zu Wedekinds besonders geschätzten Kunstrichtungen, wie er in einem Fragebogen Maximilian Hardens angab [vgl. Wedekind an Maximilian Harden, 10.9.1913]. davon, um meine Stube zu schmücken; das eine La bella di TizianoDas Frauenporträt Tizians von 1536 zeigt eine unbekannte Frau im blauen Kleid, heute im Palazzo Pitti in Florenz. das andere den Moses von Michel
AngeloMichelangelos monumentale Moses-Statue (1512 bis 1515) steht in der Kirche San Pietro in Vincoli in Rom auf dem Grab von Papst Julius II.. Auch für die
beiden PhotographienEine der beiden Photographien zeigte offenbar das in der Königlichen Gemälde-Galerie Dresden befindliche Bild „Das Weltgericht (jüngstes Gericht)“ [Wilhelm Schäfer: Führer in der Königlichen Gemälde-Gallerie zu Dresden. 2. Aufl. Dresden o. J. (1869), S. 107] von Peter Paul Rubens, eine „Meisterskizze von hohem Werte [...] Nach seiner Gewohnheit, oft mehrere Farbenskizzen zu einem Bilde zu fertigen, hat er auch dieses Sujet zwei Male skizzirt, die zweite Skizze ist jetzt in der münchener Pinakothek, wo auch die Ausführung, die aber von Diepenbeek gemalt und von Rubens blos retouchirt zu sein scheint, sich befindet.“ [Ebd.] Das Motiv der zweiten Photographie ist nicht ermittelt., von Rubens meinen besten Dank. Sie sind zwar beide aus
der Dresdener Gallerie, aber DennochSchreibversehen, statt: dennoch. kenne ich das eine Original sehr gut, da
eine vergrößerte Copie | des jüngsten Gerichtesdas Ölgemälde „Das Große Jüngste Gericht“ (1617) von Peter Paul Rubens in der Alten Pinakothek in München. von Rubens selber in der
hiesigen alten Pinakotek hängt. Am Weihnachtsabend hatt’ ich einige gute
Freunde zu einer Punschbowle und zu den Güzis(schweiz.) Plätzchen, Süßigkeiten. von Mama auf meine Bude geladen.
Wir waren sehr vergnügt bis gegen Mitternacht und gingen dann zusammen in die
Hofkirche wo eine wunderschöne Mozartsche MesseDas in der Presse angekündigte Programm für Heilig Abend lautete: „In der heil. Christnacht findet in der Allerheiligen-Hofkirche Nachts Christmette statt. Bei dem darauffolgenden, um Mitternacht beginnenden feierlichen Hochamt bringt die königliche Hofcapelle unter Direction des kgl. Hofcapellmeisters Professors Joseph Rheinberger eine Messe in Es für Frauenstimmen, Harfe, Orgel, Violoncell und Contrabaß von Kaspar Aiblinger, Graduale ‚Puer natus‘ von Joseph Rheinberger, Offertorium ‚O salutaris hostias‘ von Caspar Aiblinger zur Aufführung.“ Eine Mozart-Messe wurde erst am 26.12.1885 gegeben: „Am St. Stephanstag, Vormittag 11 Uhr: Messe in D für Soli, Chor und Orchester, von W. A. Mozart“ [Allgemeine Zeitung, Nr. 356, 24.12.1885, 2. Beilage, S. 2]. aufgeführt wurde. Am folgenden Abend,
den 25. besucht’ ich das letzte AbonnementsconcertDie Presse kündigte an: „(Die Musikalische Akademie) bringt in ihrem, zum ersten Weihnachtstag – Freitag – im kgl. Odeon Abends 7 Uhr stattfindenden letzten Abonnements-Konzert folgendes Programm: Sinfonie Nr. 4 B-Dur, op. 60 von Beethoven; Frühlingsfantasie op. 23 für vier Solostimmen, Pianoforte und Orchester, vorgetragen von Frl. Herzog und Blank, den Herren Mikorey und Fuchs, Klavier: Professor Giehrl; Wald-Horn-Konzert Nr. 4, Es-dur von Mozart (Herr Kammermusiker Reiter) und Huldigungsmarsch von Rich. Wagner.“ [Neueste Nachrichten und Münchner Anzeiger, Jg. 38, Nr. 357, 23.12.1885, 1. Blatt, S. 10] denn von Neujahr an bis Ende
der FastenSchreibversehen, statt: Ende der Fastenzeit. werden hier keine F/C/oncerte mehr abgehalten.
Seit ungefähr vierzehn Tagen herrscht hier wieder eine ganz annehmbare
KälteDauerfrost herrschte den Wetterberichten in den Zeitungen zufolge in München spätestens ab dem 12.1.1886.. Man kann Schlittschuhlaufen und Schlittenfahren und ist vor Erkältungen
sicherer als zuvor. Diese Woche besuchte mich Leopold FröhlichLeopold Frölich aus Brugg, ein ehemaliger Mitschüler Armin Wedekinds, machte 1881 das Abitur an der Kantonsschule Aarau und studierte anschließend Medizin in Genf und wurde Psychiater. von Brugg der
auf der Durchreise nach Berlin die hiesigen Kliniken
| besichtigen wollte. An einem freien Nachmittage begleitete ich ihn dann in die
Irrenklinik, was mir um so interessanter war, da sich L. F. speciell mit
Psychiatrie beschäftigt und mir vieles zu erklären wußte. In’s Theater bin ich
in letzter Zeit sehr wenig gekommen, da nichts Neues von Bedeutung gegeben
wurde. Mati schreibt mirvgl. Emilie (Mati) Wedekind und Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 20.1.1886. Die dort erwähnte Sorge des Vaters um Frank Wedekinds Gesundheit findet sich allerdings in der Briefpassage der Mutter. in ihrem letzten lieben Briefe, Du seist um meine
krank gewesenes BeinWedekind hatte sich am 3.8.1885 eine Rotlaufinfektion am linken Unterschenkel zugezogen, die längere Zeit im Krankenhaus behandelt werden musste. Er unterrichtete seinen Vater darüber erstmals Mitte August [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 12.8.1885]. in Besorgniß. Ich danke Dir, lieber Papa; M mein
Bein verhält sich sehr gut und auch sonst bin ich gesund und wohl. Mit der
Hoffnung dieser Zeilen mögen Dich ebentsoSchreibversehen, statt: ebenso. wohl auch antreffen bin ich
Dein treuer Sohn
Franklin.
P. S. Die 130 M. hab ich richtig erhaltenWedekinds Mutter hatte ihn zuletzt aufgefordert, dem Vater den Eingang des Geldes zu bestätigen [vgl. Emilie (Mati) Wedekind und Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 20.1.1886], das er seiner Silvesterpost beigelegt hatte [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 31.12.1885]..
Besten Dank dafür!