München, 26.III.86.
Lieber Papa,
herzlichen Dank für die liebevolle Freundlichkeit, mit der
Du meinem PoemaWedekinds Briefgedicht „UNSERM LIEBEN VATER DR.. F. WEDEKIND zum siebzigsten Geburtstage“ [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 20.3.1886 und KSA 1/I, S. 205-235 sowie KSA 1/II, S. 2109-2122], das die Biographie des Vaters bis zu seiner Heirat nacherzählt. entgegengekommen bistHinweis auf ein nicht überliefertes Antwortschreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 24.3.1886.. Ich weiß sehr wol, daß es stellenweise
nur allzusehr derselben bedarf. Es fehlte mir eben zu Beginn vollständig das
Augenmaß und indem ich
dann den Stoff unter meinen Händen über Berechnung hin anwachsen sah, mußt ich
manches stehen lassen, was ich gerne schöner und treffender gesagt hätte. Doch
tröstete ich mich mit dem Gedanken, daß | ja diese einmalige Behandlung des so
hochpoetischen Stoffes eine zweite vollkommenere ja durchaus nicht ausschließt
und daß das Motiv, deine Pilgerfahrt durchs Leben, ja so ungemein reich an den
buntesten Momenten ist, daß es bei sorgfältiger Bearbeitung leicht auch für
einen allgemeineren Leserkreis Interesse gewinnen würde. – Auch
für mein erstes Honorar sag ich dir meinen besten Dank; ich hab’ es auf das
würdigste verwendet und angelegt, und wag’ es noch nebenbei als eine recht schöne Vorbedeutung für
spätere Zeiten zu nehmen. Auch die beiden PhotographienDie dem Brief beigelegten Kunst-Photographien sind nicht überliefert. haben mir große Freude
bereitenSchreibversehen, statt: bereitet.. Nicht weniger die von Julio
Romano als die von |
Titian. Wenn ich überdenke was ich an alten und neuen Bildern seit meinem
AustritSchreibversehen, statt: Austritt. in die Welt nun alles gesehen habe, so sind doch die Schöpfungen
TitiansReproduktionen von Bildern Tizians hatte Wedekind auch selbst erworben und seinem Vater davon berichtet [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 9.1.1886]. diejenigen, bei denen ich im Geist am liebsten verharreweile. Diese herrliche Lebensfülle, verbunden mit der hohen und zugleich
lieblichen Schönheit und vor allem die tiefe wunderbare Farbenpracht, sind so
bestrickende Vorzüge, daß sie den Blick sich nicht abwenden lassen.
Über alledem hab’ ich bis jetzt noch ganz vergessen, Dir, lieber
Papa, für dein eigenes
BildDas Bild des Vaters, vermutlich eine Photographie, lag wahrscheinlich dem Brief des Vaters von Ende Januar bei [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 31.1.1886]. zu danken; und doch stand dasselbe während der ganzen ZeitWedekind arbeitete spätestens seit Anfang Februar an dem Geburtstagsgedicht für den Vater [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 1.2.1886]., da ich b/a/bends
an dem Festpoema arbeitete, vor mir auf dem Tisch und half mir in liebevollster
Weise überall wieder auf die Spur | wo mich mein GedächtnißWedekind dürfte die Biographie des Vaters aus dessen Erzählungen gekannt haben. zufällig zu
verlassen drohte.
Vor ungefähr einem Monat fragt ich bei H. Professor WagnerWedekinds Vater hatte seinem Sohn wiederholt aufgetragen, „Professor Moritz Wagner“ [Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 31.1.1886] zu grüßen [vgl. zuerst: Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 22.7.1885], der seit 1862 Honorarprofessor für Ethnographie und Geographie an der Universität München und Direktor der ethnographischen Sammlungen war, wohnhaft Maximilianstraße 21, 1. Stock links [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1885, Teil I, S. 548]. Friedrich Wilhelm Wedekind hatte ihn während seines Türkeiaufenthalts am 1.10.1843 in Samsun kennengelernt [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind: Tagebuch 1835 – 1847. AfM Zürich, PN 169.1: 301]. in
einem kurzen höflichen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Moritz Wagner, 24.2.1886. , worin ich mich ihm vorstellte, an, wann ich ihm
meine Aufwartung machen dürfe. Er schrieb mir darauf ein sehr freundliches
Billetvgl. Moritz Wagner an Wedekind, 25.2.1886., worin er bedauerte, mich nicht empfangen zu können, da er schon seit Wochen
an einer Bronchitis leide und der Arzt ihm das Sprechen strengstens untersagt
habe. Er bittet mich, Dir für Deine freundliche Erinnerung seinen Dank
auszusprechen und Dich/r/
ihn bestens zu empfehlen. Seither hab ich nichts mehr von ihm vernommen.
Die Fleischmannsche AusstellungGemäldeausstellung der Hof-, Buch- und Kunsthandlung E. A. Fleischmann (Inhaber: Albert Riegner) (Maximilianstraße 1) [vgl. Adreßbuch von München 1886, Teil I, S. 126] im Münchener Odeon: „(Kgl. Odeon.) Im Laufe dieser Woche eröffnet die E. A. Fleischmann’sche Hofkunsthandlung in ihrem eigenen Parterre-Lokale, sowie in zweien besonders hiezu arrangirten Sälen des ersten Stockes eine größere Kunstausstellung. Wie wir vernehmen gelangt eine größere Anzahl neuer Werke hiesiger Künstler zur Ausstellung, worunter das soeben vollendete Werk von Professor Gabriel Max ‚Die Himmelskönigin.‘ Die Ausstellung enthält u. a. noch die bekannten Abundantiabilder von Hans Makart, sowie das Colossalgemälde von George Rochegrosse ‚Bauernaufstand‘, welches in der diesjährigen Salonausstellung in Paris großes Aufsehen erregte.“ [Bayerischer Landbote, Jg. 61, Nr. 162, 22.7.1885, S. (3)]. Die Ausstellung wurde auch an anderen Orten gezeigt, so im „Ausstellungssaal von Rudolf Bangel in Frankfurt a. M.“ mit dem Bild von Rochegrosse sowie „Werken der hervorragendsten modernen deutschen Meister, wie A. Achenbach, Brandt, Defregger, Diez, Hugo Kauffmann, Herm. und Fritz Aug. Kaulbach, Gabriel Max, Klaus Meyer, Pilow, Schreyer, Voltz u. a.“ [Illustrirte Zeitung, Bd. 86, Nr. 2220, 16.1.1886, S. 65] sah ich schon vor geraumer Zeit
| hier in München. Sie enthielt damals ein großes Historienbild„La Jacquerie“ (Bauernaufstand) von Georges-Antoine Rochegrosse wurde erstmals 1885 auf der Ausstellung im Pariser Salon gezeigt, anschließend in München, Frankfurt am Main, Leipzig und Wien. Es zeigt eine Szene aus dem französischen Bauernaufstand von 1358. Die Presse schrieb: „Dieses Bild des Eindringens eines wütenden Bauernhaufens in das Innere eines mittelalterlichen Schlosses, wo sie die Familie des eben ermordeten Schloßherren in Todesangst zusammengedrängt finden und ihr dessen Haupt sowie sein Herz auf Piken gesteckt zeigen, spricht ein hervorragendes dramatisches Talent aus. Besonders die Großmutter, welche sich schützend vor ihre Tochter und deren Kinder stellt, eine glücklich erfundene, imponierende Gestalt, und auch die entsetzt die Eindringenden anstarrenden Kinder sind im Ganzen gut geschildert. Weit weniger wird man sich mit den mehr wie die Insassen eines Irrenhauses als wie Bauern aussehenden Aufständischen befreunden können. Hier wie beim ganzen Bild hat der Maler ganz offenbar seine Erinnerungen an die Commune in Paris und die Schreckensszenen jener furchtbaren Zeit verwertet, und dadurch allerdings seiner Darstellung eine gewisse packende, unmittelbare Wahrheit gegeben, die freilich mehr zurückstoßender, ja entsetzender, als eigentlich tragischer Art ist.“ [Friedrich Pecht: Unsere Bilder. In: Die Kunst für Alle. Jg. 1, Heft 3, 1.11.1885, S. 42] von dem jungen
Franzosen Rochgrosse, das durch seinem/n/ hochdramatischen EfectSchreibversehen, satt: Effect. und
besonders durch die fast ins Abstoßende getriebene Realistik meine
Aufmerksamkeit erregte.
Die neuen Gemälde haben allerdings alle beinahe ohne alle Kritik einen ung/v/erhältnißmäßig
hohen Preis und es giebt wol kaum eine Waare, die im Werthe mit dem Alter so
schnell und so tief herabsinkt, wenige Meisterleistungen von unbestrittener
Schönheit natürlich ausgenommen. Schon aus diesem Grunde ist wol das Princip,
von dem Du Dich beim Sammeln von Kunstwerken leiten läßt, das U
untrüglichste, und ich freue mich darauf, bei meiner Rückkehr die Stücke sehen
zu dürfen, | mit denen Du neuerdings Deine Gallerie beschenkt hast.
Im nächsten Semester würd ich sehr gerne noch hier in München
bleibenWedekinds Vater hatte bereits im Sommer 1885 einen gemeinsamen Studienortwechsel von Armin und Frank Wedekind nach Zürich gewünscht [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 22.7.1885]. Frank Wedekind blieb jedoch in München, brach sein Studium dort aber im Sommer 1886 ab.. Es währt ja nur drei Monate lang und die Zeit die ich zur Reise und
zum Einwohnen in einem Anderen Ort brauchen würde, kann ich hier besser verwenden. Um die Welt ist
es mir auch einstweilen noch nicht sehr zu thun. Später wenn ich erst
etwas gelernt habe und an ein g/b/estimmtes Ziel gelangt bin, hoff’ ich
sie mir noch in aller Muße n/b/etrachten zu können.
Von der großen RaufereiDie Presse berichtete: „(Schlägerei.) Der Polizeibericht meldet: ‚In der Nacht von Samstag auf Sonntag kam es in einer Wirthschaft an der Blüthenstraße zwischen deutschen und griechischen Akademikern und Studenten zu einem größeren Raufexceß, in dessen Verlauf ein Bildhauer aus Schlesien eine gefährliche Stichwunde erhielt. Derselbe wurde in das allgemeine Krankenhaus verbracht.‘ [...] Namentlich sollen die Griechen den Gesang der deutschen Nationalhymne durch Spottlieder unterbrochen haben.“ [Allgemeine Zeitung Nr. 82, 23.3.1886, 2. Beilage, S. (1)] die hier, dicht in meiner Nähe, zwischen
Griechen und Norddeutschen stattfand, wirst du vielleicht in der Zeitung etwas
gelesen haben. Gleich tags darauf sprach ich zufällig | einen von den Ärzten,
die man in der Schreckensnacht herbeigerufen hatte. Von den zwei
schwerverwundeten Norddeutschen soll bereits der Eine im Spital gestorben sein.
Ich g/b/in glücklicherweise in letzter Zeit sehr wohl gewesen. Deine Mahnungvgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 31.1.1886.
betreffs Schlittschuhlaufens nahm ich mir zu Herzen und nützte die
anhaltende Kälte der letzten Wochen noch nach Kräften aus. Plötzlich schlug
dann das Wetter um und seit einigen Tagen haben wir eine schwühle drückende Hitze.
Übrigens hat es jetzt allen Anschein, als will es Regen geben und im April und
Mai wird sich wol auch der Schnee wieder einstellen. Ich hoffe, lieber Papa,
daß auch Dich dieser Brief recht wohl antreffen möge. Mama laß ich aufs
herzlichste für ihre lieben Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 15.3.1886. danken und | werde sie bei nächster
Gelegenheit beantworten. Mit den herzlichsten Grüßen vor allem an Dich, lieber
Papa, wie auch an die a/A/nderen, bin ich dein dankbarer Sohn Franklin.
P. S. Es war mir nicht möglich die
BranntweinschenkeEine Abbildung des Ölgemäldes „In der Branntweinschänke“ (1883) des Münchner Genremalers Eduard Grützner (Praterstraße 7) [vgl. Adreßbuch von München 1886, Teil I, S. 168] findet sich in den jüngst vergangenen Ausgaben der „Illustrirten Zeitung“ nicht. Von seinen beliebten Trinkbildern war zuletzt eine Reproduktion von „In der Klosterschäfflerei“ (1883) abgedruckt [vgl. Illustrirte Zeitung, Bd. 85, Nr. 2209, 31.10.1885, S. (19)]. in ei/de/r illustr. Zeitung zu finden und somit liegt hier die
Photographie beiDie beigelegte Photographie des Bildes ist nicht überliefert.. Grützners neustes Werk ist der Auerbachs Keller1885 entstandenes Gemälde von Eduard Grützner nach einer Szene in Goethes Tragödie „Faust“. Die Presse urteilte: „Die meisten Figuren dieses Bildes sind in Bezug auf Lebendigkeit und Schärfe der Individualisierung, in Bezug auf die Beredsamkeit des Ausdrucks wahre Kabinettstücke.“ Das Bild sei „bis zum geringsten Detail mit gleichmäßiger Sorgfalt und mit blendender Wirklichkeitstreue gemalt [...] Ohne Frage kann man ‚Auerbachs Keller‘ von Ed. Grützner den bedeutendsten Kunst-Schöpfungen desselben beizählen.“ [Die Kunst für Alle, Jg. 1, Heft 5, 1.12.1885, S. 73] aus dem Faust,
der mir aber nicht sonderlich imponirt. Es scheint mir eben nur die Kneiperei
wiedergegeben, ohne den Goetheschen Geist der dieselbe belebt.