Hochverehrter Herr Harden!
Trotz des Ernstes der über uns waltet, kann ich meine Freude
darüber nicht verbergen, Ihren Kampfplatzdie politische Öffentlichkeit in Deutschland. Wedekind setzt zwei innenpolitische Krisen in Beziehung zueinander: Nachdem das Image Wilhelms II. durch Maximilian Hardens Enthüllungen im Zuge der Eulenburg-Affäre beschädigt war, löste die „Daily-Telegraph“-Affäre eine Staatskrise aus. Der Londoner „Daily Telegraph“ hatte am 28.10.1908 ein Interview mit dem Kaiser über das deutsch-englische Verhältnis veröffentlicht, in dem Wilhelm II. erklärte, im Unterschied zum deutschen Volk hege er höchst freundschaftliche Gefühle für England. Sein ‚persönliches Regiment‘ löste in allen Parteien Empörung aus, die Affäre kam am 10. und 11.11.1908 im Reichstag zur Sprache und Harden griff seinen alten Gegner publizistisch massiv an. So eröffnete er am 7.11.1908 in der „Zukunft“ seine Artikel-Serie „Gegen den Kaiser“, die er am 14.11.1908 fortsetzte und in diesem Heft, auf das Wedekind sich offenbar bezieht, seinen Angriff mit zwei weiteren Artikeln ‒ „Monarchen-Erziehung“ und „König Phaeton“ ‒ zuspitzte. Diese Artikel in der „Zukunft“ trafen die öffentliche Stimmungslage und wirkten entsprechend. in so herrlicher Weise geändert zu
sehen. Nachdem Sie den destruktiven Feldzug endgültig siegreichAnspielung auf die Eulenburg-Affäre mitsamt der nachfolgenden Prozesse Kuno von Moltkes gegen Maximilian Harden, deren letzter dieser gewann [vgl. Wedekind an Maximilian Harden, 29.10.1907]. beschlossen,
stehen Sie mit einem Schlage plötzlich an der Spitze des Volkes, das um | seine
politische Ehre ringt. Wohin dieses Ringen führt, ist wohl das tiefste
geschichtliche Geheimnis, das es seit Beginn der französischen Revolution
gegeben hat. Ob die Angelegenheit im Sand verläuft oder ob sie zu eine
Katastrophe führt, die Folgen, scheint mir, werden gleich schwer und
erschütternd sein. Aber Deutschland muß sich
meiner Ansicht nach dazu Glück wünschen, daß jemand lebt, der nicht nur selber
auf das Geschehene vorbereitet war, sondern auch Andere darauf vorbereitet hat,
der in dem allgemeinen Chaos | seinen ruhigen Blick bewahrt. Wie uninteressant
können die größten re/ge/schichtlichen Ereignisse sein, wenn keine
Persönlichkeiten dabei in den Vordergrund treten. Ob der Weg, den Sie gehen in
absehbarer Zeit zu einem Erfolg führen wird scheint mir eine sehr geringe
Wahrscheinlichkeit. Aber der einen Thatsache sind Sie doch jetzt wohl schon
sicher, daß tausende und tausende von Menschen ihre Haltung bei Ihnen suchen
und an Ihnen finden, Menschen, die Ihnen zeitlebens dafür dankbar bleiben
werden, wenn Sie | es Ihn ihnen jetzt auch nur ermöglichen den Gang
unserer Schicksale so zu sehen, wie er sich in wirklichkeit vollzieht.
Für Ihre liebenswürdigen Wortenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Maximilian Harden an Wedekind, 14.11.1908. Maximilian Harden dürfte zu einem Brief mit Beilage [vgl. Wedekind an Maximilian Harden, 17.10.1908] Stellung genommen haben, zum „Reinhardt-Tagebuch“ (siehe unten). in der Reinhardt-angelegenheitWedekind hatte Maximilian Harden sein sogenanntes „Reinhardt-Tagebuch“ geschickt [vgl. Wedekind an Maximilian Harden, 17.10.1908], um seine Auseinandersetzungen mit Max Reinhardt um die Auflösung seiner Verträge mit dem Deutschen Theater zu Berlin zu dokumentieren.
meinen besten Dank. Die Sache ist für mich erledigt, ich will nichts von
Reinhardt.
Ihrer hochverehrten Frau Gemahlin bitte ich meiner Tilly und
meine ergebensten Empfehlungen auszusprechen und verbleibe in ernster Erwartung
mit herzlichen Grüßen
Ihr
Frank Wedekind.
15.11.8.
München, Prinzregentenstr. 50.