Zürich 30.VII 87.
Liebe Mama,
empfang meinen herzlichsten Dank für all das Treffliche, das
du mir zum GeburtstagFrank Wedekind hatte am 24.7.1887 seinen 23. Geburtstag. übersendetDas Begleitschreiben zu der Sendung mit den Glückwünschen (s. u.) ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 23.7.1887.! Die Kirschen waren ein süßes erfreuliches
Vorspiel; Karl und ich haben uns zwei Tage daran erlabt; AuchSchreibversehen, statt: erlabt; auch. Armin nahm Theil,
der zufällig vorbeikam. Und dann der mächtige Korb. Was mich am meisten freute,
weiß | ich gar nicht. Aber das ganze war ein goldener Sonnenstrahl, so quasi eine
Ladung aus dem Füllhorn FortunensAttribut der römischen Glücks- und Schicksalsgöttin Fortuna, „ein mit Früchten, Blumen etc. gefülltes, meist gewundenes Horn oder Bild eines solchen, als Symbol des Überflusses und Attribut des Reichtums“ [Meyers Konversations-Lexikon, 4. Aufl., Bd. 6, Lepzig 1887, S. 781].. Kaffee Cacao und Zucker nahm ich sofort in
Angriff, ebenso den Tabak. Es schmeckt alles über die maßenSchreibversehen, statt: über die Maßen. gut und würzt den
Genuß immer wieder durch die tiefere Bedeutung. Und Mieze, die liebe Mieze! Sie
entäußert sich des Geschenkes, das sie vierjährigem Fleiß verdankt, um mir eine Freude zu machen.
Nun, das wäre nicht nöthig gewesen. Ich weiß ja nur zu gut, | wie sie es meint.
Aber das ist wahr, das Buchnicht ermittelt; offenbar ein Examensgeschenk, das Erika Wedekind am Ende ihrer Ausbildung am Aarauer Lehrerinnenseminar erhalten hatte, das sie drei Jahre lang, von Frühjahr 1884 bis Frühjahr 1887, besuchte. hat dadurch für mich einen unermeßlichen Werth
gewonnen! Und das gute
liebe Mati, das mir, praktisch wie immer, Papier und Couverte schenkt. Jetzt
eben schreib’ ich darauf und ich habe schon vielmehr, darauf
geschrieben, das mir, wenn’s irgend gut geht noch viel viel mehr nützen kann.
Aber auch dein Glückwunsch, liebe Mama, hat sofort seine Kraft
bewährt. Am gleichen Tag erfuhr ich von Prof. VogtProf. Dr. jur. Gustav Vogt war von 1878 bis 1885 Chefredakteur der „Neuen Zürcher Zeitung“ gewesen und schrieb weiterhin gelegentlich noch für das Feuilleton., daß er einen ArtikelWedekinds Essay „Zirkusgedanken“ [KSA 5/II, S. 94-106] erschien am 29. und 30.7.1887 in der „Neuen Zürcher Zeitung“ [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 67, Nr. 209, 29.7.1887, 1. Blatt, S. (1-2), 2. Blatt, S. (1-2), Nr. 210, 30.7.1887, S. (1-2)]. von
mir acceptirt. Ich hege auch die feste Zuversicht | daß es jetzt rüstig weiter
gehen wird. Für diesen Monat bin ich gedeckt und für den nächsten hab ich
bereits vorgearbeitet.
Armin arbeitetArmin Wedekind absolvierte zum zweiten Mal das Abschlussexamen in Medizin, nachdem er Anfang des Jahres durchgefallen war. indessen rüstig weiter. Auch er hat mich mit Tabak
und anderen schönen Dingen überhäuft. Am Nachmittag jenes schönen Tages waren
Karl und ich in der Tonhalle HeilsarmeeDie Heilsarmee in Zürich hatte ihr Versammlungslokal im Grünenhof in Hottingen [vgl. Armin Wedekind: Die Pocken im Kanton Zürich während der Jahre 1873 – 87. Zürich 1888, S. 27], das „Hauptquartier für die deutsche Schweiz“ unter Leitung des Hauptmanns Fritz Schaaf befand sich in der Cramerstraße 2 im Stadtteil Aussersihl [vgl. Adreßuch der Stadt Zürich 1887, Teil I, S. 281]. Später verfasste Wedekind eine Ballade mit dem Titel „Die Heilsarmee“ [vgl. KSA 1/III, S. 100 u. 704 f.]. und am Abend besuchten wir mit
Frl. RothgangChristine Rothgang arbeitete 1887 in Zürich – vermutlich als Schneiderin oder Näherin – bei der Firma Jelmoli u. Comp., die ein Modegeschäft am Münsterplatz 17 und eine Filiale in der Bahnhofstraße17 besaß. Sie war eine Tochter des 1873 verstorbenen Kofferträgers Leonhard Rothgang und seiner Frau Maria, die zwischen 1862 und 1884 in München gemeldet waren [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 124f.; Adreßbuch für München 1862 (S. 294) bis 1884 (S. 182)], wohin Christine Rothgang vermutlich Mitte August umzog. Gemeinsam mit ihrer Freundin Anna Ruppert hatte sie Wedekind zu seinem Geburtstag ein Gedicht geschrieben [vgl. Christine Rothgang und Anna Ruppert an Wedekind, 24.7.1887]. das
TonhalleconzertIn der Zürcher Tonhalle, einem 1867 zum Konzertsaal umgebauten ehemaligen Kornhaus am linken Limmatufer direkt vor dem Fraumünster, fanden drei- bis viermal die Woche Konzerte statt. An Wedekinds Geburtstag waren in dem zugehörigen Palmengarten in den Konzertpausen außerdem Vorstellungen „der märchenhaften griechischen Illusion Galathée“ zu sehen [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 67, Nr. 204, 24.7.1887, S. (4)].
Frl. Henkell scheint die Schweiz mit schwerem Herzen verlassen zu haben
und Frl. Gugelvermutlich Bertha Gugel, die jüngere (s. u.) der beiden Schwestern des Lenzburger Musikdirektors Eugen Gugel [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 125]. mit nicht | viel leichterem. Frl. Gugel ist ein kleiner Satan, unter uns gesagt. Wir waren zuerst
auf dem See und feierten dann Abschied in der Kronenhalle. Ich hoffe sie
dereinst in MünchenDort lebten die Eltern der Gugel-Geschwister, Theresia und Eugen Gugel (Blumenstraße 5) [vgl. Adreßbuch von München1887, Teil I, S. 181]. noch genauer kennen zu lernen. Ein einziger Abend giebt ein
Bild, das nicht weniger EfectSchreibversehen, statt: Effect. macht durch das, was man sieht, wie durch das,
was man nicht sieht. So zum Beispiel hielt ich sie in allem Ernste für 15 Jahr
altDie beiden Schwestern Sofia Katahrina und Bertha Gugel waren 1867 und 1870 geboren., worauf ich denn, wie ich zu spät einsah, eine durchaus verfehlte Taktik
gründete. Karl dagegen, der gar keine | Taktik gründete, traf mit dank seinem naiven Ingenium(lat.) angeborene Fähigkeit, Begabung. sofort den richtigen Accord. Dabei
galt es ihm keinen Pfennig, während ich mein Herz in die Wagschale legte. Der
kleine Satan aber hielt in jeder Hand ein Rosenband, deren eines mit einem Mal
ganz unversehens – ich traute meinen Augen nicht! – zum Narrenseil wurde. Als die
Sonne aufging, war ich ganz gelb in den Augenals Zeichen des Neides.. Darauf schüttete ich meinen Jammer in ein Gedichtnicht ermittelt; möglicherweise das titellose Gedicht „Schönes Weib, ich muß verzagen“ [KSA 1/I, S. 266; 1/II, S. 2018] [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 126]. und machte
den Deckel zu. Seither fühl ich mich | michSchreibversehen (Wortwiederholung beim Seitenwechsel), statt: mich. wieder einigermaßen erleichtert.
Und nun leb wohl, liebe Mama. Noch einmal besten Dank
und die herzlichsten Grüße an Dich und Alle. Verzeih mir daß ich erst so spät antworte. In
treuer Liebe dein dankbarer Sohn
Franklin.