München den 2. November
1915
Liebe Mama!
Nachdem wir uns in München wieder eingewohntmöglicherweise fehlendes Trema, dann: eingewöhnt. haben, muß ich
Dir endlich für die schönen TageFrank und Tilly Wedekind besuchten mit ihren Kindern vom 30.8. bis 30.9.1915 die Mutter in Lenzburg [vgl. Tb]. danken, die wir bei Dir verlebt haben. Das
erste was es hier gab war ein Bankett zu Ehren Max Halbesam Vortag von Max Halbes 50. Geburtstag. Wedekind notierte am 3.10.1915: „Halbe-Banquet im Restaurant Schleich.“ [Tb] Die Presse berichtete: „Im Rokokosaal des Weinhauses Schleich versammelte sich Sonntag mittag eine erlesene Schar von Freunden und Verehrern Max Halbes, um den 50. Geburtstag des Dichters zu feiern. Die Vertreter des Münchner Schrifttums hatten sich fast vollständig zu diesem Fest eingefunden und man freute sich, unter ihnen auch den nun wieder völlig genesenen Frank Wedekind zu erblicken. Sonst sah man u. a. Max Bernstein, Bruno Frank, O. Falkenberg, L. Feuchtwanger, Katharina Godwin, K. Martens, A. de Nora, W. v. Oesteren. Die Münchner Theaterdirektoren hatten es sich nicht nehmen lassen, vollzählig zu erscheinen, ja selbst ihre Dramaturgen mitzubringen. Außerdem gewahrte man in der zahlreichen Versammlung die Professoren Soxhlet und Sieger, viele Vertreter der Münchner und der auswärtigen Presse, Repräsentanten der bildenden Kunst, wie Joseph Futterer und der sämtlichen Münchner Theater.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 68, Nr. 509, 4.10.1915, Morgenblatt, S. 3] Am Münchner Schauspielhaus (Direktion: Georg Stollberg) fand zu Ehren Max Halbes ein Zyklus mit seinen Stücken statt., bei dem es mir
erspart blieb eine Rede zu halten. Seitdem gehen Tilly und ich häufig ins
TheaterSeit ihrer Rückkehr nach München besuchten Tilly und Frank Wedekind dem Tagebuch zufolge gemeinsam Aufführungen von „Frühlings Erwachen“ am 1.10.1915 („Mit Tilly in Frlgs Erwachen in den Kammerspielen.“), von August Strindbergs „Rausch“ am 11.10.1915 in den Kammerspielen („Mit Tilly in Rausch von Strindberg.“), von Franz Dülbergs „Karinta von Orrelanden“ am 16.10.1915 („Mit Tilly im Residenztheater Dülberg Karinta von Orrelanden.“), von Gioachino Rossinis „Der Barbier von Sevilla“ am 21.10.1915 am Königlichen Hof- und Nationaltheater („Mit Tilly in Barbier von Sevilla.“) und von August Strindbergs „Gespenster-Sonate“ am 1.11.1915 in den Kammerspielen („Mit Tilly in Gespenster-Sonate“). und sahen unter anderem einen sehr schönen Barbier v. Sevilla. | Meine WundenAufgrund von Problemen mit der Wundheilung nach Wedekinds Blinddarmoperation am 29.12.1914 unterzog er sich am 15.4.1915 einer Nachoperation. Am 21.9.1915 bekam er einen Bauchgürtel verordnet, den er am 5.10.1915 ändern lässt. [vgl. Tb].
werden immer kleiner sind aber noch nicht ganz zugeheilt. Mit dem Hoftheater in
Mannheim haben wir ein Gastspielam 22. und 24.1.1916. Gegeben wurden „König Nicolo“ mit Wedekind in der Titelrolle und „Erdgeist“ mit Tilly Wedekind als Lulu und Frank Wedekind als Dr. Schön. abgeschlossen. Mein Bismarck wird eben als
BuchDie Buchausgabe von Wedekinds historischem Schauspiel „Bismarck“ wurde vom Georg Müller Verlag erstmals am 13.11.1915 angekündigt [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 82, Nr. 265, 13.11.1915, S. 6899], aber erst Ende Dezember ausgeliefert [vgl. Georg Müller an Wedekind, 27.12.1915]. Von April bis Dezember erschienen einzelne „Bilder“ des Stücks in der Zeitschrift „Der Neue Merkur“ [vgl. KSA 8, S. 683-691]. gedruckt. Sobald es erscheint, werde ich Dir ein Exemplar senden. Das Wetter
ist andauernd prachtvoll, wir gehen daher in der herrlichen UmgegendIn Wedekinds Tagebuch sind mehrfach Spaziergänge nach Oberföhring dokumentiert, so am 9.10. („Spaziergang im Herzogspark“), 10.10. („Prachtvoller Spaziergang nach Oberföhring.“), 17.10. („Prachtvoller Spaziergang mit Tilly und den Kindern nach Oberföhring.“) und am 1.11.1915 („Spaziergang nach Oberföhring“). Die Isarauen und das Stauwehr im Stadtteil Oberföhring waren rund vier Kilometer von Wedekinds Wohnung entfernt. möglichst
viel spazieren. Tilly und den Kindern geht es unberufen sehr gut und ich habe
mich auch nicht zu beklagen. Sehr würde es uns | interessieren etwas neuesSchreibversehen, statt: etwas Neues. über
Mati zu hören. Die Kinder sprechen zuweilen noch Schweizerdeutsch miteinander.
Mir selber war der Lenzburger Aufenthalt ein ungetrübter Genuß. Wenn Du Herrn Gustav Henkell siehst,
dann grüß ihn bitte herzlich von mir. Unser geselliges Leben hier ist sehr
eingeschränkt aber für das wenige ist man umso dankbarer. Tilly hat mir abends
wieder einige sehr schöne Bücher vorgelesenLaut Wedekinds Tagebuch las ihm Tilly Wedekind seit der Rückkehr aus Lenzburg aus folgenden Büchern vor: vom 2. bis 6.10.1915: Hans Bartsch: „Er. Ein Buch der Andacht“ (1915), vom 6. bis 11.10.1915: „Memoiren der Königlich Preußischen Prinzessin Friederike Sophie Wilhelmine Markgräfin von Bayreuth, Schwester Friedrichs des Großen“ (1908 oder frühere Auflage); am 15. und 17.10.1915: Molière: „Don Juan“ (1682); vom 18. bis 26.10.1915: Wilhelm Cahn: Im belagerten Paris: 1870/71. Tagebuchaufzeichnungen“ (1915); vom 27. bis 31.10.1915: Arthur Schnitzler: „Komödie der Worte“ (1915; enthält die Einakter: „Stunde des Erkennens, „Große Szene“ und „Das Bacchussfest“)., darunter ein Memoirenwerk aus
Paris während | der Belagerung 70/71. Wenn Du Mangel an Lectüre hast so schickt
es d/D/ir Tilly. Über das was uns am meisten interessiert, läßt sich
nichts schreibenGemeint sind die Kriegsereignisse. Briefe ins Ausland durften im Deutschen Reich aufgrund der kriegsbedingten Postüberwachung mit Kriegsbeginn am 28.7.1914 nur unverschlossen verschickt werden, um Kontrollen zu ermöglichen., ich freue mich nur, daß Du froh sein wirst über den Lauf der Welt. Heute AbendAm Abend des 2.11.1915 besuchte Wedekind ein Konzert von Willy Burmester: „Burmester Konzert. American Bar mit Burmester Frau und zwei Töchtern, Adolf Paul“ [Tb]. Ob er in diesem Kontext mit Aage Madelung zusammentraf, ist ungewiss.
bin ich mit dem Kriegskorrespondenten Aage MadelungDer dänische Schriftsteller Aage Madelung arbeitete als Kriegsberichterstatter in Ungarn und Galizien für das „Berliner Tageblatt“. Daneben hielt er Vorträge über seine Kriegserlebnisse, in München zuletzt am 23.10.1915 im Hotel Vier Jahreszeiten [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 68, Nr. 546, 26.10.1915, Vorabendblatt, S. 4]. Bei S. Fischer in Berlin erschienen seine Bücher „Mein Kriegstagebuch“ (1915) und „Aus Ungarn und Galizien. Kriegsberichte“ (1916). zusammen, von dem Du sicher
auch in den Basler Nachrichten gelesen hast. Tilly, die Kinder und ich senden
Dir die herzlichsten Grüße und besten Wünsche für Dein Wohlergehen.
In treueSchreibversehen, statt: in Treue. und Dankbarkeit
Dein alter
Frank