6. Mai 1914.
Meine liebe Mama!
Zu Deinem übermorgigen GeburtstageAm 8.5.1914 wurde Emilie Wedekind 74 Jahre alt. senden Tilly und ich Dir
die allerherzlichsten Glückwünsche. Ich bin eben im BegriffWedekind notierte am 6.5.1914: „Abfahrt von München. Lustige Reisegesellschaft Wien Tegethoff“ [Tb]. Tilly Wedekind folgte am 9.5.1914 nach. auf einige Tage
nach Wienzu den Proben und zur Premiere (11.5.1914) von „Simson“ am Wiener Johann Strauß-Theater. Wedekind führte Regie und spielte den Fürsten Og von Basan, Tilly Wedekind die Delila. Am 15.5.1914 reisten beide zurück nach München: „Abfahrt von Wien. Ankunft in München. Alles wohl. Martha ist noch da“ [Tb]. zu fahren, deshalb schreibe ich heute schon. Alles liebe Gute und
schöneSchreibversehen, statt: Alles Liebe, Gute und Schöne. wünsche ich Dir von | ganzem Herzen. Das schönsteSchreibversehen, statt: Das Schönste. hast Du ja in dem
großem Glück, das Du für uns alle bist, in der Liebe Deiner Kinder, derHeranwachsenenSchreibversehen, statt: Heranwachsenden. und der Kleinen Eine große Freude wird es mir sein, wenn wir uns
diesen Sommer wiedersehenZu einem Wiedersehen Wedekinds mit seiner Mutter kam es erst im Oktober: „Fahrt nach Lenzburg. Mati erwartet mich am Bahnhof. Abend mit Mama und Mati.“ [Tb 6.10.1914] Wedekind blieb bis zum 11.10.1914. können, hoffentlich etwas länger als das letzte JahrWedekind hatte seine Mutter vom 12. bis 16.7.1913 in Lenzburg besucht.
Tilly beginnt große schauspielerische Erfolge zu erndten. Als Delila hat sie in
Berlin sehr gefallenTilly Wedekind spielte die Delila in Wedekinds „Simson“ anlässlich eines Gastspiels (mit Wedekind als Fürst Og von Basan) am Lessing-Theater in Berlin (Direktion: Victor Barnowsky) am 26. und 30.3.1914. Die Presse schätzte die Delila-Rolle von Tilly Wedekind mehrheitlich als Fehlbesetzung ein, da „deren liebliche Lustspielbegabung sich in die Teufeleien der Dirne Delila verstellen muß. Man merkt ihr an, wie sie sich gewaltsam auf den Kothurn hinaufschraubt, und es ist nicht immer kurzweilig, Zeuge dieser krampfhaften Bemühungen zu sein. Man glaubt ihr wohl den Einfluß der Schönheit, aber ganz und gar nicht die Virtuosität der Schamlosigkeit, auf die Wedekinds Delila in erster Linie eingestellt ist.“ [Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 147, 28.3.1914, Morgen-Ausgabe, S. 8] Noch deutlicher urteilte Fritz Engel: „Frau Wedekind gibt die Delila, und wenn man, wie immer, so auch jetzt bei dieser Darstellerin merkt, wie sie mit kleinen Mitteln um Großes ringt, wie sie eifert, sich widmet, sich auf die Fußspitzen reckt und in einer Sache aufgeht, die von vornherein verloren ist, so bezeugen wir diesem Opfermut allen Respekt, finden diese Frau sogar sehr reizend anzusehen, bitten aber zugleich, sich zu schonen.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 43, Nr. 157, 27.3.1914, Morgen-Ausgabe, S. (2)] Positiver urteilte der „Vorwärts“: „Frau Tilli Wedekind, die man bisher nur aus kleinen Rollen in ihres Mannes Dramen kannte, gab diesmal Ueberraschendes. Im ersten Akte wurde der Eindruck durch das nicht genügend kräftige Organ beengt. Im zweiten aber und im dritten wuchs sie für mein Empfinden mit des Dichters Intentionen ganz und gar zusammen. Das kindlich Eigensinnige, die Sinnlichkeit, die Lüsternheit der Sensation, Hochmut, Laune, verschlagene Raubtiertücke, das schillerte in wechselnd bunten Lichtern durcheinander. Die schlanke, schmiegsame Gestalt, der weiche, von keinem Anhauch eines ernsteren Gedankens oder tieferen Gefühls getrübte Reiz des Antlitzes fügten sich dem Bilde in wunderbarer Weise ein. Man glaubte ihr die Macht, das Glück, den garusamen Zerstörungstrieb, in dem sie sich ergötzt.“ [Vorwärts, Jg. 31, Nr. 86, 28.3.1914, 1. Beilage, S. (1)]. | nachdem die Rolle vorher von Tilla Durieux gespieltTilla Durieux spielte die Delila in der Uraufführung von „Simson“ am Berliner Lessing-Theater am 24.1.1914. Wedekind war nicht anwesend. Er war zwar am 11.1.1914 nach Berlin gefahren [vgl. Tb], um die Regie zu führen, dann aber am 21.1.1914 nach Kompetenzstreitigkeiten mit dem Theaterdirektor Victor Barnowsky wieder abgereist, da er kurzfristig die Rolle des Königs Og von Basan übernehmen sollte [vgl. Wedekind an Victor Barnowsky, 20.1.1914] – ein „Theaterskandal“ [KSA 7/II, S. 1331]. Während der Proben notierte er am 15.1.1914: „Die Durieux wird ungebärdig“.
worden war. Vor vierzehn Tagen spielten wir wieder am Hoftheater in StuttgartAm 15.4.1914 reisten Tilly und Frank Wedekind nach Stuttgart für ein Gastspiel von „Der Erdgeist“ (18.4.), „Marquis von Keith“ (19.4.) und den Einaktern „Zensur“ und „Der Kammersänger“ (21.4.) am Königlichen Hoftheater.,
Tilly zum zweitenTilly Wedekinds erster Auftritt am Stuttgarter Hoftheater war am 6.5.1912 in „Der Erdgeist“ und am 9.5.1912 im „Marquis von Keith“., ich zum dritten MalFrank Wedekind war, neben den aktuellen und den genannten Aufführungen im Mai 1912, an dem zum Königlichen Hoftheater Stuttgart gehörigen Königlichen Wilhelma-Theater in Cannstatt am 6. und 8.3.1903 in zwei Vorstellungen von „Der Kammersänger“ in der Titelrolle zu sehen gewesen. Wedekinds Auftritt in „Hidalla“ in Stuttgart am 16.4.1905 fand hingegen am Residenztheater statt.. Der König hörte sich zum zweiten MalDemnach besuchte Wilhelm II. von Württemberg die Vorstellungen des „Marquis von Keith“ am 19.4.1914 und die von „Der Kammersänger“ am 21.4.1914. Zum ersten Mal hatte er an seinem Theater eine Vorstellung des „Marquis von Keith“ am 11.5.1912 besucht: „Der König wohnt der Vorstellung bis zum Schluß bei“ [Tb]. Folgt man Wedekind, hat der König auch eine der Aufführungen von „Der Kammersänger“ im März 1903 in Cannstatt (s. o.) besucht.
den Kammersänger und den ganzen Marquis von Keith an. Nächsten Samstagam 9.5.1914. Die Premiere fand erst am 11.5.1914 statt (s. o.). sollen
wir in Wien Simson spielen und dann wieder bei Reinhardt in Berlin einen ganzen
ZyklusDer Wedekind-Zyklus an den Kammerspielen des Deutschen Theaters (Direktion: Max Reinhardt) begann mit der Erstaufführung von Wedekinds Neubearbeitung von „Franziska“ am 31.5.1914 („Franziska Uraufführung“ [Tb]) und dauerte bis zum 14.6.1914. Gegeben wurde der „Marquis von Keith“, „Der Kammersänger“, „Der Erdgeist“, „Oaha“, „Hidalla“ und „Der Stein der Weisen“.. Sehr hat es mich | gefreut, daß Du den Winter nicht allein zugebracht
hast. Der junge Herr Doctorwahrscheinlich Armin Wilhelm Gottlieb Wedekind, der wie sein Vater Armin Wedekind, Medizin studierte und 1917 promovierte. war ja alles/r/ Voraussicht nach kein
lästiger Hausgenosse. Ich denke mir, daß Du recht viel aus Deinen reichen
Erfahrungen erzählt haben wirst. Nun leb wohl, liebe Mama. Laß es Dir recht
recht gut gehen. Mit den herzlichsten Glückwünschen von Tilly den Kindern und mir Dein alter treuer
Sohn Frank
[Kuvert:]
Frau
Dr. Emilie Wedekind
Lenzburg
Ct. Aargau
Schweiz