Meine liebe Mutter!
Mit großer Freude nehme ich den heutigen TagGemeint ist der 8.5.1910, der 70. Geburtstag der Mutter, den Wedekind als Ankunftstag seines Briefes annahm. wahr, um Dir
offen und herzlich für alles/n/ Reichthum zu danken, den Du mir in
dieses Leben mitgegeben hast. Es sind ja erst fünf Jahre her„Wedekind datiert seinen Aufstieg zum anerkannten Theaterschriftsteller mit der überaus erfolgreichen Uraufführung seines Schauspiels ‚Hidalla‘ am 18.2.1905 unter der Regie Georg Stollbergs am Münchner Schauspielhaus“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 244]., daß ich mich
dieser Gaben wirklich freuen kann. Umsomehr möchte ich jetzt, daß Du an dieser
Freude theilnehmen kannst. Daß ich augenblicklich einen KampfWedekinds auch öffentlich ausgetragene Auseinandersetzungen mit seinem Verleger Bruno Cassirer, die schließlich zur Übernahme seiner Werke in den Verlag Georg Müller führte. | auszufechten habe,
darf n/D/ich in keiner Weise erschrecken. Unberufen sind das keine
Sorgen mehr sondern Machtfragen, die über kurz oder lang gelöst werden mußten
wenn ich Ordnung in den Geschäften haben will.
Von ganzem Herzen, liebe Mama, beglückwünsche ich Dich zum
heutigen Tag. Zu alle dem V/v/ielen Schönen, das ich Dir selber zu
danken habe, kommt nun auch noch Deine Herzlichkeit und Liebe, die Du meiner
Tilly entgegenbringst. Ich erscheine nun heute an Deinem Ehrentag fast mir |
leeren Händen. Als Symbol sende ich Dir mein letztes Buchder Einakter „Der Stein der Weisen“, das nach der Erstpublikation in der Zeitschrift „Jugend“ im Juli 1909 bei Paul Cassirer Ende November 1909 als Buch erschienen war [vgl. KSA 6, S. 903, 916]., das Du ja
wahrscheinlich schon kennst und muß Dich nun nur wieder bitten, Dich durch das
VorwortWedekind setzte in seinem Vorwort [vgl. KSA 6, S. 938] zu „Der Stein der Weisen“ seine Auseinandersetzung mit dem „Berliner Tageblatt“ fort, die er anlässlich einer Rezension seines Stücks „Musik“ durch den Feuilletonredakteur Fritz Engel mit einem offenen Brief begonnen hatte [vgl. Wedekind an Berliner Tageblatt, 2.11.1908] und nahm nun die Einlassungen der Zeitung auf seine damalige Replik zum Anlass einer erneuten Kritik an deren Rezensionspraxis. In späteren Auflagen von „Der Stein der Weisen“ wurde dieses Vorwort nicht erneut abgedruckt. nicht etwa erschrecken zu lassen. Ich stehe mit dem Berliner Tageblatt
heute im glänzendsten Einvernehmen. In meiner jetzigen Fehde war es schon mein
treuer Bundesgenossedurch den Abdruck eines offenen Briefes Wedekinds [vgl. Wedekind an Verlagsbuchhändler, 23.3.1910] im Zusammenhang mit dem Streit mit seinem Verleger Bruno Cassirer um den Verkauf der Verlagsrechte seiner Werke an potentielle Interessenten. Der Brief erschien unter der Überschrift „Ein Wedekind-Dokument“ [in: Berliner Tageblatt, Jg. 39, Nr. 157, 29.3.1910, Abend-Ausgabe, S. (3)]..
Im Lauf dieses Sommers werde ich nacheinander vier neue BücherIn Wedekinds neuem Verlag Georg Müller erschienen im Juni1910 die drei Einakter „In allen Sätteln gerecht“, „Mit allen Hunden gehetzt“ und „In allen Wassern gewaschen“ [vgl. KSA 7/II, S. 690] sowie die Aphorismensammlung „Schauspielkunst. Ein Glossarium“ [vgl. KSA 5/III, S. 730].
herausgeben, die alle vier schon geschriebenDem Tagebuch zufolge übergab Wedekind seinem Verleger die fertigen Manuskripte am 20.4.1910 („Bringe Iawg zu Georg Müller.), am 20.5.1910 („Besuch bei Müller. Ich bringe ihm Mahg.“) und am 10.6.1910 („Bringe letzte Korrektur Schauspielkunst zu Müller.“). Das dritte Stück beendete er am 24.6.1910: („Letzte Korrektur von Iasg.“). sind und die Dir Tilly gleich nach
ihrem Erscheinen schicken wird. Ich hatte in den | letzten Wochen sehr viel
Schreibereien notwendig zu erledigen. Sonst würde mich der heutige Tag nicht so
unvorbereitet treffen.
Herzinnig würde es mich freuen etwas über MatiEmilie (Mati) Wedekind hatte geplant, ihre Verlobung mit dem Jugendfreund Eugène Perré am Geburtstag ihrer Mutter in Lenzburg zu feiern, wie sie in einem Brief an ihren Bruder Armin vom 5.4.1910 ankündigte: „Verlobungsanzeigen werden keine geschickt aber zu Mamas Geburtstag wird nun alles versammelt sein.“ [AfM Zürich, Nachlass Armin Wedekind, PN 169.05:168] zu hören.
Und nun, liebe Mutter, auf baldiges Wiedersehen, hoffentlich
im SommerTilly, Frank und Pamela Wedekind verbrachten den Sommer vom 6.8.1910 bis zum 2.9.1910 in Lenzburg [vgl. Tb]. . Freue Dich heute recht herzlich mit all denen die um Dich sind.
Grüße Armin und seine Lieben von mir.
Mit herzlichsten Grüßen und innigen Wünschen zu Deinem siebzigsten
Geburtstag
Dein DankbarerSchreibversehen, statt: dankbarer. Sohn
Frank
München 6. Mai 1910.