Liebe Mama!
Dir und Mati danke ich bestens für Euren freundlichen Glückwunschzur Geburt von Anna Pamela Wedekind am 12.12.1906. Mutter und Schwester hatten telegraphiert [vgl. Emile Wedekind und Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 12.12.1906].. Tilly befindet sich unberufen
sehr wohl. Sie hat die EntbindungDie Presse berichtete irrtümlich: „Frank Wedekind als Vater. Wie wir vernehmen, ist der Dichter von ‚Erdgeist‘ und ‚Frühlings Erwachen‘ glücklicher Vater geworden. Nach einjähriger Ehe hat ihm seine Gattin, Frau Niemann-Newes einen strammen Weihnachtsjungen beschert. Hoffen wir, daß dieses neueste Wede-‚Kind‘ die Talente seines Vaters geerbt hat.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 35, Nr. 635, 14.12.1906, Abend-Ausgabe, S. (3)] leicht überstanden. Die Hebamme und ein
SpezialistDr. med. Georg Bresin, praktischer Arzt und Geburtshelfer. Wedekind notierte am 12.12.1906 im Tagebuch: „Um 6 Uhr weckt mich Tilly durch ihr geschrei, bald darauf kommt Dr. Bresin um 8 Uhr ist Anna Pamela geboren, dann kommt Flatau.“ , die zugegen waren hatten nichts zu thun. Gleich darauf kam noch
unser HausarztDr. med. Theodor Simon Flatau, Hals-, Ohren- und Nasenarzt, außerdem Dozent für Stimmphysiologie an der Berliner Hochschule für Musik. Seit einem Jahr war er Wedekinds Hausarzt (behandelt hat er Tilly), im Tagebuch erstmals namentlich genannt am 23.12.1905.. Um sechs Uhr Morgens hatte die Sache angefangen und
um 8 Uhr war die Kleine geboren. Die Hebammenicht identifiziert; Wedekind notierte am 11.12.1906 im Tagebuch: „Um 9 Uhr Abend kommt die Hebamme. […] Ich bleibe zu Hause.“ besorgte darauf eine Schwesternicht identifiziert. Im Tagebuch notierte Wedekind am 12.12.1906: „Um Mittag tritt die Schwester an.“,
die Tilly und das Kind seitdem pflegt. Besuche zu empfangen hat ihr der Arzt
untersagt.
Tilly hat ihrer Tochter die Namen Anna Pamela
gegeben. Das Stillen verursachte ihr gestern und vorgestern einige Schmerzen,
die aber schon abzunehmen scheinen. Ich selber habe jeden Abend | zu spielenWedekind trat in dem relevanten Zeitraum am 11.12.1906 sowie am 13., 14., 15. und 16.12.1906 in „Frühlings Erwachen“ an den Kammerspielen auf [vgl. Tb]. ,
sonst hätte ich Euch vorher schon geschrieben. Heute am Sonntag habe ich sogar
zwei Mal aufzutreten. Um 3 Uhr ist eine ErdgeistvorstellungDie „Erdgeist“-Vorstellung der Neuen Freien Volksbühne in Berlin am 16.12.1906 fand als geschlossene Veranstaltung ohne Ankündigung in der Presse am Deutschen Theater statt. Wedekind sprach als Tierbändiger den „Prolog zum Erdgeist“ (s. u.). für die Freie
VolksbühneDer 1890 gegründete Theaterverein Neue Freie Volksbühne in Berlin, seit 1902 unter dem Vorsitz von Josef Ettlinger, machte modernes Theater dem Publikum preiswert zugänglich und veranstaltete als Freie Bühne die Vereinsvorstellungen an Sonn- und Feiertagnachmittagen an wechselnden Spielstätten (darunter das Deutsche Theater und das Neue Theater) mit den Ensembles dieser Bühnen, darunter (in den öffentlichen Theaterprogrammen nicht aufgeführt) im Spieljahr 1906/07 eine „Erdgeist“-Vorstellung [vgl. Neuer Theater-Almanach 1908, S. 182]., die unter der LeitungDie stellvertretenden Vorsitzenden der Neuen Freien Volksbühne (Vorsitz: Josef Ettlinger) waren in der aktuellen Spielzeit Karl Henckell und Bruno Wille [vgl. Neuer Theater-Almanach 1907, S. 211]. von Karl Henckell und Bruno Wille steht und
am Abend trete ich in Frühlings Erwachenum 20 Uhr an den Kammerspielen des Deutschen Theaters [vgl. Berliner Tageblatt, Jg. 25, Nr. 638, 16.12.1906, Sonntags-Ausgabe, 6. Beiblatt, S. (1)]. Wedekind spielte den vermummten Herrn. Die Uraufführung von „Frühlings Erwachen“ (Regie: Max Reinhardt) hatte dort am 20.11.1906 stattgefunden, die Inszenierung wurde zu einem großen Theatererfolg. auf. Ich weiß daß Du das Stück nicht liebst und behellige Dich
deshalb auch nicht mit Berichten darüber.
Bis jetzt ist der Winter für Tilly und mich sehr ruhig
verlaufen und auch das Erscheinen unserer Tochter hat die Behaglichkeit
vorläufig nicht gestört. Alle vierzehn Tage kam man nach den jeweiligen
PremierenWedekind verzeichnete im Tagebuch Premierenbesuche am 17.10.1906 („Abends Premiere Liebeskönig. Nachher mit dem Deutschen Theater und Leo Greiner bei Hupka. Dann mit Tilly bei Stallmann.“), am 8.11.1906: („Eröffnung der Kammerspiele mit Gespenster. Nachher mit der ganzen Gesellschaft und Rathenau bei Hupka.“), am 20.11.1906 („Premiere von Frühlings Erwachen. […] Nachher bei Hupka, dann mit Tilly und Gemma im Café Austria.“), am 22.11.1906 („Pressevorstellung von Fr Erw. Nachher Souper bei Borchart. […] Nachher mit Tilly und Gerhäuser im Café Austria.“) und am 7.12.1906 („Pressevorstellung von Mensch und Übermensch. Nachher bei Borchart“). zu einem Diner zusammen, das ist alles was wir an gesellschaftlichem
Leben mitgemacht haben. | Im Monat Februar sollen Tilly und ich in GöttingenZu einem Gastspiel in Göttingen kam es nicht.
und in LeipzigWedekind fuhr am 11.2.1907 alleine zu einem Gastspiel des Deutschen Theaters nach Leipzig („Tilly begleitet mich auf den Bahnhof Fahrt nach Leipzig. Logiere Hotel Hauffe […] Frl. Erw.“) und am 12.2.1907 weiter nach Dresden („Abfahrt nach Dresden. […] Logiere in Webers Hotel. Fahre zu Mieze. Frlgs Erw. Nachher bei Mieze zu Abend gegessen. Bis 4 im Stadtkaffee.“) [Tb]. spielen; ich bin sehr darauf gespannt ob und wie sich das machen
läßt.
Ich hoffe liebe Mama, daß Dir und Mati der Winter in Lenzburg ebenso behaglich ist, wie
er bis jetzt hier in Berlin war. Gefroren hat es bis jetzt überhaupt noch
nicht. Seit zwei Tagen liegt er/de/r erste Schnee. In Lenzburg wird es
wohl schon etwas kälter gewesen sein. Wie stellt sich denn Mati jetzt zu den
Lenzburger Festivitäten, Cäcilienfest Mit Musikaufführungen begleitetes Fest zu Ehren der Heiligen Cäcilie, das in der Schweiz am 15. November bzw. am jeweils darauffolgenden Sonntag gefeiert wird. Es fiel in diesem Jahr auf den 18.11.1906. u. s..w? Es würde mich sehr
in|teressieren zu hören was in Lenzbug/r/g Theater gespielt wird. Heute
Nachmittag wird wol viel von Lenzburg die RedeDer Anlass ist unklar. sein. Vielleicht schreibt mir
Mati einmal etwas ausführliches.
Tilly läßt Dich, liebe Mama und Dich liebes Mati herzlich
grüßen. Augenblicklich schläft sie und ich werde jetzt durch den Thiergarten
zum Deutschen Theater gehen um dort als Löwenbändiger aufzutreten. Ich sende
euch beiden die herzlichsten Grüße auf baldiges frohes Wiedersehn in Lenzburg.
Euer getreuer
Frank
16.12.6.