Den 3. Dec. 1903.
Liebe Mama!
Deine freundlichen theilnehmenden Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 1.12.1903. beeile ich mich zu
beantworten. Seit etwa acht Tagen gehe ich wieder an die frische Luft, gestern
Abendam 2.12.1903. war ich in/so/gar in einem Conzertvermutlich der Liederabend von Anton Dreßler, mit dem Wedekind befreundet war, im Bayerischen Hof mit August Schmid-Lindner am Klavier und Liedern von Ansorge und Streicher [vgl. Allgemeine Zeitung, Jg. 106, Nr. 335, 3.12.1903, Abendblatt, S. (1)]. und darauf folgender
Gesellschaft. Ich habe im ganzen nur zehn Tage zu Bett gelegenwegen einer Lungenentzündung (s. u.). Über den Krankheitsverlauf gibt Max Halbe in seinem Tagebuch Auskunft: „Erhalte gleich nach dem Aufstehen Brf. von Wedekind, daß er mich noch einmal sehen will, bin sehr bestürzt, finde ihn in sehr schlechtem Zustand. Bildet sich ein, er [...] müsse heute sterben. [...] Arzt kommt u. diagnostiziert Lungenentzündung“ [Tb Halbe 8.11.1903] Am 12.11.1903 notierte Max Halbe bereits: „Wedekind auf dem Wege der Besserung“, am 17.11.1903: „Wedek. fieberfrei, aber schlechter Laune“, und am 19.11.1903: „besuche […] Wedek., der aufgestanden“ [Tb Halbe]., das Fieber war
nicht stark, ebensowenig die Schmerzen. Ich hatte zu Anfang nicht weniger als
drei Ärzteeiner davon dürfte Wedekinds Hausarzt Johannes Hauschildt gewesen sein (s. u.), die beiden anderen sind nicht ermittelt.; meine HaushälterinIm Tagebuch nennt Wedekind später eine nicht näher identifizierte Therese [vgl. erstmals Tb 15.4.1904], die möglicherweise früher schon die Nachfolge von Hildegarde Zellner angetreten hatte, die Wedekinds Haushalt wegen des gemeinsamen Kindes im Sommer 1903 verließ., eine Österreicherin aus Linz, bewährte sich als
Pflegerin sehr gut und des Nachts war eine katholische Diakonissinnicht näher identifiziert. bei mir. |
Zugezogen habe ich mir die Lungenentzündung bei einem
sechstägigen GastspielDie Premiere des „Marquis von Keith“ am Intimen Theater (Direktion: Emil Meßthaler) in Nürnberg war am 31.10.1903, die letzte Vorstellung am 5.11.1903. Wedekind spielte die Titelrolle. als Marquis von Keith in Nürnberg. Trotz hochgeradigen
Fiebers konnte ich das Gastspiel nicht gut unterbrechen. Nach der letzten
Vorstellung fuhr ich nach München zurück und mußte mich sofort zu Bett legen. Unter
der Controlle meines ArztesWedekinds Hausarzt war Dr. med. Johannes Hauschildt, praktischer Arzt in München (Schackstraße 6) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1903, Teil I, S. 241]. habe ich meine Arbeiten jetzt allmählig wieder
aufgenommen, fühle mich aber noch sehr schwach, bin auch bedeutend magerer geworden, was aber nicht
lange vorhalten zu wollen scheint. Ich soll essen, essen, essen. Das war aber
nie meine | starke Seite. Deshalb profitire ich möglichst davon, daß gerade
Austernzeit ist.
Von Donald habe ich seit mehreren Wochen keine Nachricht
gehabt, bin aber ziemlich sicher, daß es ihm nicht schlecht geht. Soviel ich
weiß hat er in der Nähe von Berlin eine eigene WohnungDonald Wedekind hatte in Friedenau bei Berlin eine Wohnung (Friedrich-Wilhelmplatz 6) genommen [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 15.8.1903], wie der letzte überlieferte Brief von ihm vor dem vorliegenden Brief belegt.. Einen gesicherten
Verdienst wird er wohl noch immer nicht haben, sonst wüßte ich es wohl, aber
schlecht geht es ihm wie gesagt jedenfalls nicht.
Es freut mich sehr, daß Ihr Euch auch jetzt im Winter so
überaus wohl fühlt in Lenzburg. Ich habe schon viel daran ge|dacht, nächsten
Sommer wiederWedekind hatte den vergangenen Sommer vom 14.7.1903 bis Mitte September bei seiner Mutter und seiner Schwester Mati in Lenzburg verbracht. hinzukommen, möchte dann aber, wenn möglich, eine kleine Wohnung
haben, die auf dem Annoncenwege w/i/m Wochenblatt vielleicht zu
entdecken wäre. Wenn es Zeit dazu ist werde ich Mati die betreffende Annonce
zuschicken. Grüße Mati bitte aufs herzlichste. Mieze werde ich diesen Winter
vielleicht in DresdenWedekind reiste am 24.12.1903 nach Dresden und blieb dort mindestens bis zum 7.1.1904. sehen. Und SeiSchreibversehen, statt: Und sei. selber herzlichst gegrüßt, für deine
liebevolle Theilnahme bedankt und empfange die besten Wünsche für Dein Wohlergehen
von Deinem treuen Sohn
Frank
[Kuvert:]
Frau
Dr. Emilie Wedekind
Lenzburg (Ct.
Aargau)
Schweiz.