Kennung: 5196

Lenzburg, 22. September 1903 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Emilie

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Mein lieber Frank!

Deine Kartevgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 14.9.1903. sowie Dein lieber BriefDie Première von Bjørnsterne Bjørnsons Drama „Der König“ fand im Neuen Theater des Stadttheaters Leipzig (Direktion: Max Staegemann) am 17.9.1903 statt (Regie: Bruno Geidner) [vgl. Leipziger Abendblatt und Anzeiger, Jg. 97, Nr. 473, 17.9.1903, Morgen-Ausgabe, S. 6447] Die Presse schrieb: „Ob Björnson, wenn er am 17. September der Erstaufführung seines ‚Königs‘ in Leipzig beigewohnt hätte, auch noch an eine Art Achtungserfolg geglaubt haben würde, ich weiß es nicht. Das aber weiß ich, daß der greise, in diesem Falle leider sehr greise Dichter […] sich in einem starken Irrtume befunden haben würde, wenn er den an diesem Abend gespendeten Beifall auf Rechnung seines Stückes gesetzt hätte. Letzterem galt vielmehr, wenn ich mich nicht ganz irre, lediglich das wiederholte starke Zischen nach den einzelnen Aktschlüssen und das Gekicher, ja das Gelächter gerade in den ernstesten Szenen. Kein Wunder, denn die Grenzen des Tragischen und des Lächerlichen streifen einander vielleicht in wenigen Stücken derart, wie in Björnsons ‚König‘, vielmehr sie sind so vollständig vermischt, daß es der ganzen Kunst des Herrn Volkner, des Darstellers der Titelrolle, bedurfte, um das wieder und wieder dem Ertrinken nahe Geisteskind des wunderlichen Verfassers noch leidlich bis zum Schluß des Stückes über Wasser zu halten. Oft wird Herr Volkner zu diesem Akte der Selbstverleugnung freilich nicht Gelegenheit haben. Denn diese Tragikomödie, die sich Björnson diesmal – ohne böse Absicht – geleistet, trägt den Todeskeim von Anfang an so unverkennbar in sich, daß jedes nähere kritische Eingehen auf diesen dramatischen Unglücksfall vom Uebel ist.“ [Dresdner Nachrichten, Jg. 47, Nr. 260, 19.9.1903, S. (4)] sind in meinem Besitz u. ich danke Dir, daß Du uns so schnell von Deiner glücklichen HeimkehrWedekind hatte den Sommer in Lenzburg verbracht („Wedekind reist morgen ab.“ [Tb Halbe 13.7.1903]) und war Mitte September nach München zurückgekehrt. benachrichtigt hast. Hoffentlich ist Dein CatahrrSchreibversehen, statt: Katarrh (Schleimhautentzündung, Erkältung). auch ganz verschwunden! Mati sagt zwar, ich dürfe Dich garnicht darüber befragen, aber, magst Du mich nun auslachen – ich habe mir wirklich rechte Sorgen darüber gemacht und bitte Dich dringend lieber Frank, Dich ja in Acht zu nehmen wenn der Husten noch nicht ganz verschwunden sein sollte. | Mati triumphirt übrigens,/!/ Sie bekommt nun ihre 50 Frs salairsalaire (frz.): Lohn. Emilie (Mati) Wedekind hatte im September 1902 [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Armin Wedekind, 2.9.1902. AfM Zürich, PN 169.5:107] und vermutlich erneut 1903 für einige Wochen an der Gemeindeschule Hendschiken, fünf Kilometer von Lenzburg entfernt, unterrichtet. von der Schulpflege doch noch ausbezahlt und der Präsident der Schulpflege, IrmigerPräsident der Schulpflege war der Oberrichter und Bankdirektor Heinrich Irmiger [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 215]., war d’rauf und d’ran einen Rüffel zu erhalten weil er ganz eigenmächtig gehandelt hat und ohne seinen Collegen irgend eine Mittheilung zu machen die „EwigeAnspielung unklar. ihre Stellvertreterin bezahlen ließ.

Deine KisteWedekind hatte vor seiner Abreise aus Lenzburg seine Sachen in einer Kiste verpackt, die er sich hinterherschicken ließ [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 17.9.1903]. ist letzte Woche schon abgeschickt worden und ist vielleicht bereits bei Dir angekommen. Ich danke Dir für Dein frdl. Anerbieten, mir den zweiten Theil von Bismarks Erinnerungen herzuschicken. Wenn es Dir nicht zuviele Mühe macht und Du das Buch ziemlich lange entbehren kannst, so | bin ich froh, es auch noch zu lesen, denn das Alles interessirt mich sehr. Ich werde Dir auch den ersten Band zuschicken, sobald ich ihn ausgelesen H/h/abe, was nicht mehr lange dauern wird. Du hast auch noch einige Taschentücher u. 1 Kragen hier; werde dann Alles miteinander schicken.

Letzten Sonntagam 19.9.1903. machten Mati, Ännchen u. ich beim herrlichsten Wetter einen Ausflug nach FluelenFlüelen liegt am südlichen Ende des Urnersees, einem Arm des Vierwaldstättersees. u. Altdorf. Ich war ganz benommen von all der großartigen Schönheit dieser himmlischen Gegend. Ich werde niemals wieder etwas so Schönes zu sehen bekommen. Biörnson’s „König“ scheint in LeipzigDie Première von Bjørnsterne Bjørnsons Drama „Der König“ fand im Neuen Theater des Stadttheaters Leipzig (Direktion: Max Staegemann) am 17.9.1903 statt (Regie: Bruno Geidner) [vgl. Leipziger Abendblatt und Anzeiger, Jg. 97, Nr. 473, 17.9.1903, Morgen-Ausgabe, S. 6447] Die Presse schrieb: „Ob Björnson, wenn er am 17. September der Erstaufführung seines ‚Königs‘ in Leipzig beigewohnt hätte, auch noch an eine Art Achtungserfolg geglaubt haben würde, ich weiß es nicht. Das aber weiß ich, daß der greise, in diesem Falle leider sehr greise Dichter […] sich in einem starken Irrtume befunden haben würde, wenn er den an diesem Abend gespendeten Beifall auf Rechnung seines Stückes gesetzt hätte. Letzterem galt vielmehr, wenn ich mich nicht ganz irre, lediglich das wiederholte starke Zischen nach den einzelnen Aktschlüssen und das Gekicher, ja das Gelächter gerade in den ernstesten Szenen. Kein Wunder, denn die Grenzen des Tragischen und des Lächerlichen streifen einander vielleicht in wenigen Stücken derart, wie in Björnsons ‚König‘, vielmehr sie sind so vollständig vermischt, daß es der ganzen Kunst des Herrn Volkner, des Darstellers der Titelrolle, bedurfte, um das wieder und wieder dem Ertrinken nahe Geisteskind des wunderlichen Verfassers noch leidlich bis zum Schluß des Stückes über Wasser zu halten. Oft wird Herr Volkner zu diesem Akte der Selbstverleugnung freilich nicht Gelegenheit haben. Denn diese Tragikomödie, die sich Björnson diesmal – ohne böse Absicht – geleistet, trägt den Todeskeim von Anfang an so unverkennbar in sich, daß jedes nähere kritische Eingehen auf diesen dramatischen Unglücksfall vom Uebel ist.“ [Dresdner Nachrichten, Jg. 47, Nr. 260, 19.9.1903, S. (4)] tüchtig ausgepfiffen worden zu sein. Die KritickSchreibversehen, statt: Kritik. las sich jammervoll. |

Was weißt Du von Donald? Hier haben sie in der Stadtbibliothek seinUltra montesDonald Wedekinds Roman „Ultra montes“ war im Frühjahr im Verlag Hermann Costenoble (Inhaber: Richard Schröder) in Berlin erschienen [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 70, Nr. 43, 21.2.1903, S. 1483] und in der „Neuen Zürcher Zeitung“ ausführlich besprochen worden [vgl. Jg. 124, Nr. 107, 18.4.1903, Morgenblatt, S. (1)]. Dabei wurde Lenzburg als Schauplatz des Romans identifiziert. Am 27.4.1903 schrieb Mati an ihren Bruder Armin: „Wir haben Ultra Montes gelesen […]. Es wird uns hier besonders unangenehm dadurch, daß er als Rahmen für seine großstädtisch wurmstichigen Verhältnisse Lenzburg und die doch im Grund genommenen recht gutmütigen Lenzburger genommen hat. Jedoch stimmt das mit seinem Ausspruch, den er bei seinem Hiersein that: ‚Wirst schon sehen in meinem Roman, ich werde Dir das Terrain hier schon untergraben.‘“ [AfM Zürich, PN 169.5:119] angeschafft. Mati findet das großartig. Uebrigens hatten wir auch noch den Besuch von Frau HamburgerEmilie (Mati) Wedekind war seit Juli 1899 für drei Jahre Hauslehrerin bei der Unternehmerfamilie Emil und Josefine Hamburger in Pettighofen gewesen und hat deren Kinder Lilli, Meta, Emma, Cara und Lia betreut [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Armin Wedekind, 29.12.1900; AfM Zürich, PN 169.5.97]. , die wirklich eine famose kleine Frau ist. Sie hätte Dir gewiß auch gefallen. Auch Frau Wucherernicht näher identifiziert. war da. Sie bedauerte aufrichtig, Dich nicht mehr vorzufinden. Dann zeigten wir uns gegenseitig, daß wir in den Begebenheiten die man aus den Tagesblättern erfahren kann, auf dem Laufenden seien, und tranken zusammen Cafe, constatierten, daß ich von der Malerei sehr wenig verstehe, indem ich lange Jahre hindurch einen Öhldruck für ein echtes Oehlgemälde gehalten hätte. – | Frau Wucherer schien dadurch sehr betrübt zu sein. Wahrscheinlich fiel ihre Hoffnung, bei mir eines ihrer Werke anzubringen, unter 0 Grad. Alles in Allem kam ich wieder zu der Einsicht, daß ich für Leute aus der Gesellschaft wenig übrig habe und sich mein IntresseSchreibversehen, statt: Interesse. immer mehr nur noch auf meine Kinder beschränke. Die Leute mit denen ich per Zufall zusammen komme bedauern sämmtlich, daß Du Deinen VortragÜber Wedekinds Vorhaben, in Lenzburg einen Vortrag zu halten, ist nichts bekannt. nicht gehalten hast. Sogar er junge Metzger Dietschi u. seine Schwesternicht näher identifiziert. In Lenzburg gab es zahlreiche Metzger mit diesem Namen. Die von Carl und Wilhelm Dietschi „betriebene, bestrenommierte, sehr günstig gelegene Metzgerei, Wursterei und Speisewirtschaft in Lenzburg“ [Der Bund, Jg. 51, Nr. 67, 9.3.1900, 2. Blatt, S. (4)] wurde Ende 1899 geschlossen und stand im März 1900 zum Verkauf. thaten das letzthin in der Metzg als ich Abends unser Fleisch dort holte. Sie hätten sich so sehr darauf gefreut Dich zu hören. Nun, aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben. Und nun, gute Nacht mein lieber Frank. Laß es Dir gut gehen und behalte lieb Deine alte
Mama.


[um 90 Grad gedreht am linken Rand:]


Mati grüßt herzlich. –

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 3 Blatt, davon 5 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 13,5 x 21 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 22.9.1903 ist als Ankerdatum gesetzt – das früheste mögliche Schreibdatum, dem Briefkontext zufolge: Wedekinds Brief traf frühestens am 18.9.1903 ein, einem Freitag. Emilie Wedekinds Bezug auf den „Letzten Sonntag“ erscheint als Formulierung erst ab Dienstag, den 22.9.1903, plausibel.

  • Schreibort

    Lenzburg
    22. September 1903 (Dienstag)
    Ermittelt (unsicher)

  • Absendeort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Erstdruck

Geliebter Sohn. Elternbriefe an berühmte Deutsche

Herausgeber:
Paul Elbogen
Verlag:
Ernst Rowohlt Verlag
Jahrgang:
1931
Seitenangabe:
300-302
Kommentar:
Im Erstdruck unvollständig ediert, eine Auslassung ist mit drei Punkten markiert. Neuedition: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 334-335 (Nr. 168).
Status:
Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 307
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 22.9.1903. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

26.03.2024 19:05