Mein lieber Frank!
Deine Kartevgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 14.9.1903. sowie Dein lieber BriefDie Première von Bjørnsterne Bjørnsons Drama „Der König“ fand im Neuen Theater des Stadttheaters Leipzig (Direktion: Max Staegemann) am 17.9.1903 statt (Regie: Bruno Geidner) [vgl. Leipziger Abendblatt und Anzeiger, Jg. 97, Nr. 473, 17.9.1903, Morgen-Ausgabe, S. 6447] Die Presse schrieb: „Ob Björnson, wenn er am 17. September der Erstaufführung seines ‚Königs‘ in Leipzig beigewohnt hätte, auch noch an eine Art Achtungserfolg geglaubt haben würde, ich weiß es nicht. Das aber weiß ich, daß der greise, in diesem Falle leider sehr greise Dichter […] sich in einem starken Irrtume befunden haben würde, wenn er den an diesem Abend gespendeten Beifall auf Rechnung seines Stückes gesetzt hätte. Letzterem galt vielmehr, wenn ich mich nicht ganz irre, lediglich das wiederholte starke Zischen nach den einzelnen Aktschlüssen und das Gekicher, ja das Gelächter gerade in den ernstesten Szenen. Kein Wunder, denn die Grenzen des Tragischen und des Lächerlichen streifen einander vielleicht in wenigen Stücken derart, wie in Björnsons ‚König‘, vielmehr sie sind so vollständig vermischt, daß es der ganzen Kunst des Herrn Volkner, des Darstellers der Titelrolle, bedurfte, um das wieder und wieder dem Ertrinken nahe Geisteskind des wunderlichen Verfassers noch leidlich bis zum Schluß des Stückes über Wasser zu halten. Oft wird Herr Volkner zu diesem Akte der Selbstverleugnung freilich nicht Gelegenheit haben. Denn diese Tragikomödie, die sich Björnson diesmal – ohne böse Absicht – geleistet, trägt den Todeskeim von Anfang an so unverkennbar in sich, daß jedes nähere kritische Eingehen auf diesen dramatischen Unglücksfall vom Uebel ist.“ [Dresdner Nachrichten, Jg. 47, Nr. 260, 19.9.1903, S. (4)] sind in meinem Besitz u.
ich danke Dir, daß Du uns so schnell von Deiner glücklichen HeimkehrWedekind hatte den Sommer in Lenzburg verbracht („Wedekind reist morgen ab.“ [Tb Halbe 13.7.1903]) und war Mitte September nach München zurückgekehrt.
benachrichtigt hast. Hoffentlich ist Dein CatahrrSchreibversehen, statt: Katarrh (Schleimhautentzündung, Erkältung). auch ganz verschwunden! Mati
sagt zwar, ich dürfe Dich garnicht darüber befragen, aber, magst Du mich nun
auslachen – ich habe mir wirklich rechte Sorgen darüber gemacht und bitte Dich
dringend lieber Frank, Dich ja in Acht zu nehmen wenn der Husten noch nicht
ganz verschwunden sein sollte. | Mati triumphirt übrigens,/!/ Sie
bekommt nun ihre 50 Frs salairsalaire (frz.): Lohn. Emilie (Mati) Wedekind hatte im September 1902 [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Armin Wedekind, 2.9.1902. AfM Zürich, PN 169.5:107] und vermutlich erneut 1903 für einige Wochen an der Gemeindeschule Hendschiken, fünf Kilometer von Lenzburg entfernt, unterrichtet. von der Schulpflege doch noch ausbezahlt und der Präsident
der Schulpflege, IrmigerPräsident der Schulpflege war der Oberrichter und Bankdirektor Heinrich Irmiger [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 215]., war d’rauf und d’ran einen Rüffel zu erhalten weil er
ganz eigenmächtig
gehandelt hat und ohne seinen Collegen irgend eine
Mittheilung zu machen die „Ewige“Anspielung unklar. ihre Stellvertreterin bezahlen ließ.
Deine KisteWedekind hatte vor seiner Abreise aus Lenzburg seine Sachen in einer Kiste verpackt, die er sich hinterherschicken ließ [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 17.9.1903]. ist letzte Woche schon abgeschickt worden und
ist vielleicht bereits bei Dir angekommen. Ich danke Dir für Dein frdl. Anerbieten, mir den zweiten Theil von
Bismarks Erinnerungen herzuschicken. Wenn es Dir nicht zuviele Mühe macht und
Du das Buch ziemlich lange entbehren kannst, so | bin ich froh, es auch noch zu
lesen, denn das Alles interessirt mich sehr. Ich werde Dir auch den ersten Band
zuschicken, sobald ich ihn ausgelesen H/h/abe, was nicht mehr lange
dauern wird. Du hast auch noch einige Taschentücher u. 1 Kragen hier; werde
dann Alles miteinander schicken.
Letzten Sonntagam 19.9.1903. machten Mati, Ännchen u. ich beim
herrlichsten Wetter einen Ausflug nach FluelenFlüelen liegt am südlichen Ende des Urnersees, einem Arm des Vierwaldstättersees. u. Altdorf. Ich war ganz
benommen von all der großartigen Schönheit dieser himmlischen Gegend. Ich werde
niemals wieder etwas so Schönes zu sehen bekommen. Biörnson’s „König“
scheint in LeipzigDie Première von Bjørnsterne Bjørnsons Drama „Der König“ fand im Neuen Theater des Stadttheaters Leipzig (Direktion: Max Staegemann) am 17.9.1903 statt (Regie: Bruno Geidner) [vgl. Leipziger Abendblatt und Anzeiger, Jg. 97, Nr. 473, 17.9.1903, Morgen-Ausgabe, S. 6447] Die Presse schrieb: „Ob Björnson, wenn er am 17. September der Erstaufführung seines ‚Königs‘ in Leipzig beigewohnt hätte, auch noch an eine Art Achtungserfolg geglaubt haben würde, ich weiß es nicht. Das aber weiß ich, daß der greise, in diesem Falle leider sehr greise Dichter […] sich in einem starken Irrtume befunden haben würde, wenn er den an diesem Abend gespendeten Beifall auf Rechnung seines Stückes gesetzt hätte. Letzterem galt vielmehr, wenn ich mich nicht ganz irre, lediglich das wiederholte starke Zischen nach den einzelnen Aktschlüssen und das Gekicher, ja das Gelächter gerade in den ernstesten Szenen. Kein Wunder, denn die Grenzen des Tragischen und des Lächerlichen streifen einander vielleicht in wenigen Stücken derart, wie in Björnsons ‚König‘, vielmehr sie sind so vollständig vermischt, daß es der ganzen Kunst des Herrn Volkner, des Darstellers der Titelrolle, bedurfte, um das wieder und wieder dem Ertrinken nahe Geisteskind des wunderlichen Verfassers noch leidlich bis zum Schluß des Stückes über Wasser zu halten. Oft wird Herr Volkner zu diesem Akte der Selbstverleugnung freilich nicht Gelegenheit haben. Denn diese Tragikomödie, die sich Björnson diesmal – ohne böse Absicht – geleistet, trägt den Todeskeim von Anfang an so unverkennbar in sich, daß jedes nähere kritische Eingehen auf diesen dramatischen Unglücksfall vom Uebel ist.“ [Dresdner Nachrichten, Jg. 47, Nr. 260, 19.9.1903, S. (4)] tüchtig ausgepfiffen worden zu sein. Die KritickSchreibversehen, statt: Kritik. las sich
jammervoll. |
Was weißt Du von Donald? Hier haben sie in der
Stadtbibliothek sein„Ultra
montesDonald Wedekinds Roman „Ultra montes“ war im Frühjahr im Verlag Hermann Costenoble (Inhaber: Richard Schröder) in Berlin erschienen [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 70, Nr. 43, 21.2.1903, S. 1483] und in der „Neuen Zürcher Zeitung“ ausführlich besprochen worden [vgl. Jg. 124, Nr. 107, 18.4.1903, Morgenblatt, S. (1)]. Dabei wurde Lenzburg als Schauplatz des Romans identifiziert. Am 27.4.1903 schrieb Mati an ihren Bruder Armin: „Wir haben Ultra Montes gelesen […]. Es wird uns hier besonders unangenehm dadurch, daß er als Rahmen für seine großstädtisch wurmstichigen Verhältnisse Lenzburg und die doch im Grund genommenen recht gutmütigen Lenzburger genommen hat. Jedoch stimmt das mit seinem Ausspruch, den er bei seinem Hiersein that: ‚Wirst schon sehen in meinem Roman, ich werde Dir das Terrain hier schon untergraben.‘“ [AfM Zürich, PN 169.5:119]“ angeschafft. Mati
findet das großartig. Uebrigens hatten wir auch noch den Besuch von Frau HamburgerEmilie (Mati) Wedekind war seit Juli 1899 für drei Jahre Hauslehrerin bei der Unternehmerfamilie Emil und Josefine Hamburger in Pettighofen gewesen und hat deren Kinder Lilli, Meta, Emma, Cara und Lia betreut [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Armin Wedekind, 29.12.1900; AfM Zürich, PN 169.5.97]. , die wirklich eine famose kleine Frau ist. Sie hätte Dir gewiß auch gefallen. Auch Frau
Wucherernicht näher identifiziert. war da. Sie bedauerte aufrichtig, Dich nicht mehr vorzufinden. Dann
zeigten wir uns gegenseitig, daß wir in den Begebenheiten die man aus den
Tagesblättern erfahren kann, auf dem Laufenden seien, und tranken zusammen Cafe, constatierten, daß
ich von der Malerei sehr wenig verstehe, indem ich lange Jahre hindurch einen
Öhldruck für ein echtes Oehlgemälde gehalten hätte. – | Frau Wucherer schien
dadurch sehr betrübt zu sein. Wahrscheinlich fiel ihre Hoffnung, bei mir eines
ihrer Werke anzubringen, unter 0 Grad. Alles in Allem kam ich wieder zu der
Einsicht, daß ich für Leute aus der Gesellschaft wenig übrig habe und sich mein
IntresseSchreibversehen, statt: Interesse. immer mehr nur noch auf meine Kinder beschränke. Die Leute mit denen
ich per Zufall zusammen komme bedauern sämmtlich, daß Du Deinen VortragÜber Wedekinds Vorhaben, in Lenzburg einen Vortrag zu halten, ist nichts bekannt. nicht
gehalten hast. Sogar er junge Metzger Dietschi u. seine Schwesternicht näher identifiziert. In Lenzburg gab es zahlreiche Metzger mit diesem Namen. Die von Carl und Wilhelm Dietschi „betriebene, bestrenommierte, sehr günstig gelegene Metzgerei, Wursterei und Speisewirtschaft in Lenzburg“ [Der Bund, Jg. 51, Nr. 67, 9.3.1900, 2. Blatt, S. (4)] wurde Ende 1899 geschlossen und stand im März 1900 zum Verkauf. thaten das
letzthin in der Metzg als ich Abends unser Fleisch dort holte. Sie hätten sich so sehr
darauf gefreut Dich zu hören. Nun, aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben. Und
nun, gute Nacht mein lieber Frank. Laß es Dir gut gehen und behalte lieb Deine
alte
Mama.
[um 90 Grad gedreht am
linken Rand:]
Mati grüßt herzlich. –