Liebe Mama!
Bei ziemlich schönem Wetter bin ich glücklich hier
angekommenWedekind hatte den Sommer in Lenzburg verbracht („Wedekind reist morgen ab.“ [Tb Halbe 13.7.1903]) und war seit Mitte September zurück in München. und traf noch am selben Abendvermutlich am 12.9.1903: „Wedekind taucht im ‚Hofth. R.‘ auf, lustige Sitzung in der Bar.“ [Tb Halbe]. mit allen Münchner Genossen zusammen. Seitdem
ist aber der Himmel wieder grau und das Wetter ist kalt, aber hier hat man
wenigsten große öffentliche Lokale in denen man sitzen kann ohne Bekannte zu treffen.
Ich versuche übrigens auch, möglichst viel zu Hause zu sein, aber behaglich ist
es bei der Stimmung mitten im Sommer auch zu Hause nicht. So geht es mit der
ArbeitWedekind arbeitete seit Ende Mai an seinem neuen Stück „Hidalla oder Sein und Haben“ [vgl. KSA 6, S. 368f.]. | zwar einigermaßen, aber doch nicht viel besser als es bei dieser
Temperatur im Steinbrüchli im Gartenhause ging. Man muß eben abwarten. Gestern
Abend traf ich meinen Freund Dreßler, der eben aus den Bergen zurückkam und
schon von verschiedenen Seiten von seinem Mißerfolg in DresdenAnton Dreßler war am 28.8.1903 in der Rolle des Rocco in Beethovens „Fidelio“ zu Gast am Königlichen Opernhaus in Dresden. Die Kritiken fielen durchweg negativ aus: „Hr. Dreßler ließ zunächst erkennen, daß er kein Fremdling auf den Brettern, welche die Welt bedeuten, ist. Aber damit und mit der Erwähnung der erfreulichen Mitgift einer deutlichen Aussprache wäre auch das erschöpft, was zu seinen Gunsten zu sagen ist. Die klanglich monotonen Stimmittel erwiesen sich kaum als ausreichend für unser Opernhaus und wie der gesangliche Vortrag der Präzision entbehrte, so war dies in gleicher Weise bei der Darstellung der Fall, die den Rocco als eine recht farblose Biedermannsgestalt hinzustellen sich bemühte.“ [Dresdner Journal, Nr. 200. 29.8.1903, S. (1)] „Aus dem bestimmt erhofften Erfolge“ von Anton Dreßlers Gastspiel, „wurde kaum mehr, als ein mittelmäßiges Bestehen der Rolle, eine Leistung, die mehr Schatten- als Lichtseiten aufwies. Das wenig günstige Ergebnis verschuldete der Gast zunächst durch auffällige Unsicherheit, die ihm ohne tatkräftige Unterstützung des Dirigenten und des Souffleurs noch größere Verlegenheiten bereitet hätte, als sie im ersten Finale in Erscheinung traten. Herr Dreßler ‚schwamm‘ hier, fest an den Souffleurkasten geklammert, mehr, als es, selbst bei ungenügend bemessenen Proben, auf einer ersten Bühne zulässig erscheint.“ [Dresdner Nachrichten, Jg. 47, Nr. 240, 30.8.1903, S. (1)] gehört hatte. Er
ist aber völlig unschuldig daran.
Ich habe den Leuten hier schon viel von Lenzburg
vorgeschwärmt und denke an die schönen Tage allerdings auch mit großem
Vergnügen zurück. Mati steht jetzt wohl wieder morgens um sechs Uhr auf und
giebt ihre SchuleEmilie (Mati) Wedekind hatte im September 1902 für einige Wochen an der Gemeindeschule Hendschiken, fünf Kilometer von Lenzburg entfernt, unterrichtet [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Armin Wedekind, 2.9.1902. AfM Zürich, PN 169.5:107]. Vermutlich wiederholte sich dies 1903.? | Mittags hat sie dann natürlich wieder viel zu erzählen.
Wenn ich irgend ein geeignetes Buch finde werde ich es ihr zuschicken. Dir
steht übrigens noch der 2. Theil „Bismark“der zweite Band von Otto von Bismarcks Autobiographie „Gedanken und Erinnerungen“, die 1898 nach dessen Tod erschienen war und zum ein Bestseller avancierte. zur Verfügung, d. h. sobald ich die
Kiste bekommen habe in der er nämlich drinliegt. Würdest Du also so gut sein,
ein Wort mit dem Fuhrmann Müller zu sprechen. Die Kiste wegen des einen Buches
in Lenzburg noch einmal zu öffnen hat keinen Zweck. Aber sobald ich sie erhalten habe
schicke ich dir das Buch zu.
Hier hat indessen wieder die Neidhammelei mit den Premièren
begonnen. Sobald einer einen Erfolg hat | fällt alles über ihn her. Ich hoffe
diesen Winter durch meine Arbeit etwas davon ferngehalten zu werden. Gestern
war als erstes „Der KönigBjørnsterne Bjørnsons Drama „Der König“ hatte am 16.9.1903 am Münchner Schauspielhaus (Direktion und Regie: Georg Stollberg) Premiere. Die Reaktionen des Publikums fielen zwiespältig aus: „Ein Teil des Publikums klatschte begeistert, ein anderer zischte energisch, somit hat das Werk Erfolg gehabt.“ [Allgemeine Zeitung, Jg. 106, Nr. 258, 17.9.1903, Abendblatt, S. (1)] Die deutsche Ausgabe des inzwischen 26 Jahre alten Stücks war erstmals 1896 bei Albert Langen erschienen, 1903 folgte die zweite Auflage. “ von Biörnson, ich weiß aber noch nicht mit welchem Ergebnis, da
ich selber nicht drin war.
Und nun habe noch einmal herzlichsten Dank für Deine liebe
Gastfreundschaft. Ich glaube daß mir die Lenzburger Zeit in jeder Beziehung
sehr gut gethan hat. Grüße Mati und auch ÄnnchenAnne Wedekind, die 13jährige Tochter von Frank Wedekinds Bruder William, der nach Südafrika ausgewandert war, lebte seit Ende 1902 in Lenzburg und ging dort zur Schule [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Armin Wedekind, 27.4.1903. AfM Zürich, PN 169.5:118]. von mir. Mit den besten
Wünschen für Dein Wohlergehn grüßt Dich herzlichst
Dein treuer Sohn
Frank.
17. September 1903.
[Kuvert:]
Frau
Dr. Emilie Wedekind
Lenzburg
Ct. Aargau
Schweiz