Liebe Mama!
Empfange meine herzlichsten Glückwünsche zu Deinem morgigen
GeburtstagEmilie Wedekind hatte am 8.5.1903 ihren 63. Geburtstag.. Zu meiner
großen Freude hörte ich von Donald, daß Ihr, Du und Mati, Euch in Lenzburg
wieder vorzüglich eingelebtEmilie Wedekind und Emilie (Mati) Wedekind waren im Juli 1902 aus Dresden bzw. Pettighofen zurück nach Lenzburg gezogen. habt und Euch sehr wohl fühlt. Vielleicht
veranlassen mich meine Geschäfte diesen Sommer nach der Schweiz zu kommen; dann
würde ich jedenfalls das Vergnügen haben, Euch zu sehen. Augenblicklich kann ich meinesSchreibversehen, statt: kann ich mich meines. Befindens
nicht gerade rühmen, daher | auch die schlechte Schrift – Ich habe nämlich vor
vier Wochen das Bein gebrochenWedekind musste „wochenlang das Bett hüten“ [Kutscher 2, S. 112], nachdem er sich am 10.4.1903 „das Bein gebrochen“ [Wedekind an Korfiz Holm, 12.4.1903] hatte, „den rechten Unterschenkel“ [Wedekind an Wolfgang Geiger, 12.4.1903]. Die Presse berichtete: „Frank Wedekind glitt in München auf der Straße aus und erlitt einen Beinbruch.“ [Neue Hamburger Zeitung, Jg. 8, Nr. 176, 16.4.1903, Abend-Ausgabe, S. (1)] und liege immer noch zu Bett. Heute hoffte ich
zum ersten Mal aufstehen zu können; die Schmerzen sind aber noch zu stark, so
daß ich wohl noch einige Tage liegen müssen werd werde. Donald war acht
Tage hier.Donald Wedekind besuchte seinen Bruder ab dem 14.4.1904 in München [vgl. Wedekind an Max Halbe, 22.4.1903]. Ich fand ihn sehr zu seinem Vortheil verändert, in körperlicher
Haltung sowohl wie auch innerlich. Ich sehe jetzt aber leider erst mit wie
wenig Verständnis und
praktischem Sinn für die Welt er ausgerüstet ist, so daß ich wohl glaube, daß
er noch | einige Jahre wird kämpfen und suchen müssen, bis es ihm gelingt eine
geordnete Position zu finden. Mit Freuden hörte ich, welch einen generösen Vorschlagnicht ermittelt. Du ihm vor einem
Jahr in Dresden machtest, als er anfing, seinen Roman zu schreiben und es
freute mich um so mehr daß er immerhin stolz genug war, nicht darauf
einzugehen. Seinen Roman habe ich gelesenDonald Wedekinds Roman „Ultra montes“ war Ende Februar vom Verlag Hermann Costenoble (Inhaber: Richard Schröder), Berlin, angezeigt worden [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 70, Nr. 43, 21.2.1903, S. 1483]. Donald Wedekind hatte seinen Bruder darauf hingewiesen, aber keine seiner Freiexemplare verschickt [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 28.1.1903 und 20.3.1903]. und kann mir wohl vorstellen, daß ihm
das Erscheinen des
Buches dazu hift/ilft/, einige kräftige Schritte vorwärts zu kommen. Ich
habe mein möglichstes gethan, um ihn auf seinem immerhin nicht leichten | Weg
zu ermuthigen.
Von mir selber habe ich nicht viel Neues zu berichten.
Anfangs dieses Jahres spielte ich am Stuttgarter HoftheaterWedekind trat am 6. und 8.3.1903 in der Titelrolle seines Einakters „Der Kammersänger“ am Königlichen Wilhelma-Theater (Intendant: Joachim Gans zu Putlitz) in Cannstatt auf, eine Spielstätte, die zum Hoftheater Stuttgart gehörte. Gegeben wurden außerdem die Einakter „Der Eindringling“ vom Maurice Maeterlinck und „Der Dieb“ von Octave Mirbeau. den Kammersänger,
der vor einigen Tagen in Dresdenam 26.4.1903 im Königlichen Hoftheater in Neustadt (zusammen mit dem Einakter „Salome“ von Oscar Wilde), ein Gastspiel des Ensembles des Berliner Kleinen Theaters im Rahmen einer Matinee-Veranstaltung für die Dresdner Literarische Gesellschaft. Paul Alexander Wolff, der Feuilletonredakteur der „Dresdner Nachrichten“, lobte zwar die Aufführung: „Gespielt wurden die beiden Stücke sehr annehmbar, der ‚Kammersänger‘ sogar recht gut.“ Er beklagte jedoch die fehlende Bühnenwirksamkeit von Wildes und Wedekinds Stücken und den jeweils gewählten Schluss. „Diesen brutalen Schluss nahm ein Teil des Publikums gestern mittag mit so unverhohlenem Mißfallen auf, daß neben starkem Zischen sogar Pfiffe hörbar wurden.“ Wolff berichtete ferner von „der Ablehnung der Wedekindschen Szenen“ durch das Publikum, „nur schüchtern wagte sich der Beifall für die Darstellung hervor.“ [Dresdner Nachrichten, Nr. 116, 27.4.1903, S. (2)] Ähnliches konstatierte auch Adolf Stern im „Dresdner Journal“: „Noch geringeren Beifall als ‚Salome‘ […] fanden die vortrefflich gespielten satirischen Szenen ‚Der Kammersänger‘ von Frank Wedekind“, namentlich der Schluss „fiel den Zuschauern auf die Nerven und weckte zischende und pfeifende Opposition.“ [Dresdner Journal, Nr. 95, 27.4.1903 S. (1)] ausgepfiffen wurde. Der ganze Hof war im
Theater und ich hatte mich nicht über Mangel an BeifallDie Presse schrieb über die Cannstatter Aufführung: „Wedekind spielte diesen Kammersänger selbst sehr gewandt“, bemängelte jedoch den „plumpen brutalen Knalleffekt“ des Schlusses, womit „Frank Wedekind sich sein ganzes satyrisches Kabinetstückchen verdorben“ hätte. „Die Vorstellung, der auch der König und die Königin beiwohnten war sehr gut besucht.“ [Cannstatter Zeitung, Jg. 63, Nr. 56, 9.3.1903, Erstes Blatt, S. 2]. An anderer Stelle hieß es: „Besonderes Interesse bei der Aufführung erweckte, daß der Dichter die Rolle des Kammersängers selbst darstellte, womit er sicher der Wirkung des Stückes erheblichen Abbruch getan hat. Allen Respekt vor dem Dichter Wedekind, ein Schauspieler für seine Rolle ist er nicht. Scheinbar unsicher im Text, eintönig in der Sprache, steif in der Haltung und in den Bewegungen und ohne jeden mimischen Ausdruck erschwerte er den Mitwirkenden ihr Spiel.“ [Schwäbische Tagwacht, Jg. 23, Nr. 56, 9.3.1903, Erstes Blatt, S. 3] zu beklagen.
Meine herzlichsten Wünsche für Dein Wohlergehen, liebe Mama,
begleiten diesen Brief. Grüße Mati bestens von mir und sei selber aufs
herzlichste gegrüßt von Deinem getreuen Sohn
Frank
München 6. Mai 1903.
[Kuvert:]
Frau
Dr. Emilie Wedekind
Lenzburg
Schweiz (Ct. Aargau).