Kennung: 5140

Paris, 25. Mai 1899 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Emilie

Inhalt

Paris 25. Mai 99. – 49 rue Bonaparte.


Liebe Mama,

ich weiß nicht ob es eine erfreuliche oder unerfreuliche Nachricht ist, die ich dir mitteile. Donald kommt in den nächsten Tagen nach Zürich d. h. er ist wenn du diese Zeilen erhältst vermutlich schon dort, und zwar hauptsächlich aus dem Grunde, weil ich nächsten Dienstag oder Mittwochden 30. oder 31.5.1899. nach Leipzig reise um mich endlich einsperren zu lassenNach der Beschlagnahmung einer Ausgabe des im Albert Langen Verlag erscheinenden „Simplicissimus“ am 24.10.1898 am Druckort in Leipzig, erging kurz darauf gegen Wedekind aufgrund der Spottgedichte „Im heiligen Land“ und „Meerfahrt“ ein Haftbefehl wegen Majestätsbeleidigung. Wedekind floh daraufhin am 30.10.1898 von München nach Zürich und später nach Paris. Der Prozess wurde am 19.12.1898 in Leipzig eröffnet [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 51, Nr. 585, 20.12.1898, Vorabendblatt, S. 2]. Wedekind stellte sich am 2.6.1899 der Polizei in Leipzig [vgl. Leipziger Tageblatt, Jg. 93, Nr. 277, 3.6.1899, Morgen-Ausgabe, 1. Beilage, S. 4365]. Am 3.8.1899 wurde er dort zu sieben Monaten Gefängnis verurteilt; die Strafe wurde Anfang September in Festungshaft umgewandelt, die Wedekind vom 21.9.1899 bis 3.2.1900 auf der Festung Königstein verbüßte..

Ich bitte dich nun vor allen Dingen, liebe Mama, all diese Nachrichten nicht tragisch zu nehmen. Es existirt in Deutschland nicht ein namhafter Schriftsteller, der nicht einmal gesessen hat. Ich habe hier in Paris ein neues Stück geschriebenWedekind schrieb in Paris das Drama „Ein gefallener Teufel“, das er später zum „Marquis von Keith“ umarbeitete [vgl. KSA 4, S. 411-413]. mit dem ich eben zu Ende bin. Um dieses Stück sowie meine anderen dramatischen Arbeiten ausnützen zu können, muß ich notwendig nach Deutschland zurückkehren, da ich keine Absicht habe | meiner Lebtag LohnschreiberAuch nach seiner Flucht aus Deutschland konnte Wedekind unter Pseudonym weiterhin Gedichte im „Simplicissimus“ publizieren, zwei Ende des Jahres 1898 und sieben weitere 1899 bis zu seiner Inhaftierung [vgl. KSA 1/II, S. 2236]. Wedekind hatte für Albert Langen jede Woche ein Gedicht zu schreiben, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten [vgl. Wedekind an Beate Heine, 12.11.1898]. im Dienste des Simplicissimus zu bleiben, so gut sich diese Arbeit auch bezahlt. LangenAuch Albert Langen war nach Zürich und Paris geflohen, um sich einer Verhaftung zu entziehen. Seine Verlagsgeschäfte betrieb er für viereinhalb Jahre vom Ausland aus, bis er nach Deutschland zurückkehren konnte. kommt dieser Entschluß der Art in die Quere, daß er um mich zu zwingen hier zu bleiben, Donald hat fallen lassenDonald Wedekind publizierte regelmäßig in den ersten beiden Jahrgängen (1896/97) des von Albert Langen herausgegebenen „Simplicissimus“. Sein letzter Beitrag dort erschien in der Nummer vom 15.5.1897. Für den Albert Langen Verlag übersetzte er außerdem Skizzen von Marcel Prévost, die unter dem Titel „Flirt“ 1900 erschienen. Die Sammlungen mit Donald Wedekinds Novellen erschienen indes in anderen Verlagen.. Donald sprach zuletzt in Mailand mit ihm, da er nicht wußte was anfangen, kam er hier nach Parisgemeinsam mit Frida Strindberg [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 22.5.1899].. Ich riet ihm aber dringend, da ich nicht hier bleibe und ich fürchte, daß er hier in seine frühere Lethargie verfällt nach Zürich zu gehen, wo er unendlich mehr Chancen hat, und Zürich nicht eher zu verlassen als bis seine Position gefestigSchreibversehen, statt: gefestigt., ebenso wie ich es vor drei JahrenWedekind hielt sich seit Ende Oktober 1895 in Zürich auf und zog im März 1896 nach München um. gemacht habe.

Liebe Mama, ich muß dir gestehen, ohne Groll, daß ich selten eine eisigere unfreundlichere, abweisendere Aufnahme gefunden habe als letzten HerbstWedekind war am 30.10.1898 von München nach Zürich geflohen, um der Verhaftung wegen Majestätsbeleidigung zu entgehen und wird im Laufe des Novembers mit seiner Mutter und Schwester zusammengetroffen sein – eine Begegnung, die er aus Angst vor Vorwürfen zunächst vermied [vgl. Wedekind an Frida Strindberg, 4.11.1898]. von dir und Mati. Ich will nicht darauf zurückkommen. Aber ich hoffe, daß das Donald | DonaldSchreibversehen (Verdoppelung beim Seitenwechsel), statt: Donald. jetzt zu gute kommt. Er sucht in Zürich nur Arbeit und wird sie, dank meiner Verbindungen dort sehr bald finden. Er hat während des letzten halben Jahres fleißig gearbeitet und seine Schuld ist es nicht wenn es sich noch nicht genügend rentirt hat. Aber das wird auch kommen. Er hat die besten redlichsten Absichten. Es kann dir unmöglich unerfreulich sein, dich davon zu überzeugen und an seinem ehrlichen Streben theilnehmen zu können. Wenn er bei alledem nur im Notfall weiß, wo er etwas zu essen finden kann, wenn der Ertrag noch nicht langt, es braucht ja nicht einmal etwas warmes zu sein.

Liebe Mama, so lange die Menschen dir gegenüber gastlich sind, könntest du es im Notfall, wiewol ich die Beschränktheit deiner Mittel kenne, auch andern gegenüber noch sein. Es ist mehr um einen Anhalt zu | thun als um Unterstützung. Donald hat praktisch arbeiten gelernt und wird in kurzer Zeit in Zürich auf festen Füßen stehen. Um irgendwelche Summen handelt es sich dabei nicht; es wird ihm nicht über die Lippen kommen dich darum zu bitten. Sobald ich aus dem Gefängniß bin werde ich mich seiner wieder annehmen, aber in dieser kritischen Zeit habe ich wirklich zu viel mit mir selbst zu thun.

Ich wollte dich noch um eines bitten; ich erzählte dir seinerzeit den ZwistFrank Wedekind hatte seinen Bruder Donald als Nachfolger für seine Stelle als Sekretär des Theaterdirektors Georg Stollberg am Münchner Schauspielhaus empfohlen, es kam jedoch wegen Donald Wedekinds ungebührlichem Verhalten gegenüber Georg Stollbergs Frau Grete (vermutlich ein verbaler oder tätlicher sexueller Übergriff) nach nur drei Wochen zum Bruch. Frank Wedekind hatte sich daraufhin brieflich bei Georg Stollberg entschuldigt, aber auch nachdrücklich für seinen Bruder eingesetzt [vgl. Wedekind an Georg Stollberg, 21.11.1898]. zwischen ihm und Director Stollberg und zwar nur um Dir zu zeigen wie man für jemanden einstehen kann, da du dich von Herrn Hünerwadevermutlich Schreibversehen, statt: Hünerwadel; die Person ist nicht näher identifiziert, möglicherweise Fritz Hünerwadel aus Lenzburg, bei dem Frank Wedekind als junger Erwachsener zu einer Tanzveranstaltung eingeladen war [vgl. Wedekind an Anny Barck, 28.11.1883]. über meine Charakterqualitäten glaubtest trösten lassen zu müssen. Ich bitte dich nun, ihm diese Sache nicht vorzuhalten. Ich habe per Zufall vergessen, ihm zu sagen, daß ich dir sie dir erzählt habe.

Donald wird in Zürich dank seiner Mitar|beiterschaftIn der Beilage der „Züricher Post“ war im Februar 1894 Donald Wedekinds Reisebericht seiner Amerikareise unter dem Titel „Eine Auswandererfahrt“ in mehreren Teilen erschienen [Nr. 29 vom 4.2.1894, Nr. 36 vom 13.2.1894, Nr. 41 vom 18.2.1894, Nr. 47 vom 25.2.1894 und Nr. 53 vom 4.3.1894]. an der Zürcher Post und meine ehemalige MitarbeiterschaftIn der „Neuen Zürcher Zeitung“ waren von Wedekind 1887 die Essays „Der Witz und seine Sippe“ [vgl. KSA 5/III, S. 204-205] und „Zirkusgedanken“ [vgl. KSA 5/III, S. 901f.] sowie die Charakterskizze „Gährung“ [vgl. KSA 5/I, S. 644] erschienen, 1888 der Essay „Im Zirkus“ [vgl. KSA 5/III, S. 454f.] und zuletzt 1895 der Aufsatz „Schriftsteller Ibsen“ [vgl. KSA 5/III, S. 754f.]. an der Zürcher Zeitung so wie durch seine Persönlichkeit sehr viel Entgegenkommen finden. Ich möchte durch diese Zeilen nur verhindern daß er eventuell hungernd und in folge dessen arbeitsunfähig in einer Stadt herumlaufen muß in der seine Schwester die glänzendsten Triumphe gefeiert hat und sein Bruder als namhafter Schriftsteller bekannt ist. Ich habe in Zürich unter anderem an einem AbendErika Wedekind gastierte als überaus erfolgreiche Opern- und Konzertsängerin am 3.12.1895 in der neuen Zürcher Tonhalle und hatte versäumt ihrem mittellosen Bruder eine Karte zukommen zu lassen [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 22.12.1895]. gehungert, an dem meine Schwester durch viertelstündiges Singen ein halbes Vermögen verdiente. Ich will das mit Freuden gethan haben, wenn Donald solche Schicksale erspart bleiben.

Ich vergesse bei dem allem nicht, liebe Mama, was du bisher für uns Beide geopfert hast und werde dir ZeitlebensSchreibversehen, statt: zeitlebens. dankbar dafür bleiben. Wenn du jetzt nur noch ein|mal das selbe Vertrauen zu Donald haben willst, das du im Sommer 95Die aus dieser Zeit überlieferte Korrespondenz lässt davon nichts erkennen [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 2.8.1895], mag aber der Anlass für ein klärendes Gespräch während eines Besuchs Frank Wedekinds in Lenzburg gewesen sein. in Lenzburg mir gegenüber hattest, dann wird alles gut werden.

Ich verbleibe mit herzlichen Grüßen und auf baldiges frohes Wiedersehen dein dir treu ergebener Sohn
Frank.


Donald weiß nicht, daß ich dir schreibe und es wird besser sein, wenn er es nicht erfährt.

Schreib mir hierher bitte nicht mehr da mich der Brief nicht mehr antreffen würde. Solltest du Anlaß haben mir nach Leipzig zu schreiben, dann vergiß bitte nicht, daß die Briefe geöffnet werdenIn Leipzig erwartete Wedekind Untersuchungshaft, in der das Briefgeheimnis aufgehoben war..


[Kuvert:]


Suisse

Frau Dr. Emilie Wedekind
geb. Kammerer
Zürich
FeldeggstrasseVermutlich wohnte Emilie Wedekind bei der Familie ihrer Verwandten, der verwitweten Emilie Leemann (geb. Kammerer) in der Feldeggstraße 52 [vgl. Adreßbuch der Stadt Zürich 1899, Teil I, S. 324]. (Riesbach) |

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Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 5 Blatt, davon 8 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Rautiertes Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 13,5 x 20,5 cm. 6 Seiten beschrieben. Kuvert. 14 x 11,5 cm. 2 Seite beschrieben.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben. Kuvert im Querformat beschrieben.
Sonstiges:
Die Briefmarke wurde aus dem Kuvert ausgeschnitten. Textverlust durch Papierausriss auf der Kuvertrückseite.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Datum und Uhrzeit im Postausgangsstempel Paris aufgrund von Papierverlust nicht lesbar. Uhrzeit im Posteingangstempel Zürich: „12“ (= 24 Uhr).

Erstdruck

Briefwechsel mit den Eltern 1868‒1915. Band 1: Briefe

(Band 1)

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Hartmut Vinçon
Verlag:
Göttingen: Wallstein
Jahrgang:
2021
Seitenangabe:
307-309
Briefnummer:
150
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Konvolut Burkhardt, Nidderau
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 25.5.1899. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

01.10.2024 12:24