Kennung: 5139

München, 14. September 1898 (Mittwoch), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Emilie

Inhalt

München 14. September 1898.


Liebe Mama,

um vorerst auf Deine Anfragenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 12.9.1898. betreffend das TheeserviceDas Hochzeitsgeschenk für Erika Wedekind und Walther Oschwald am 15.10.1898 in Baden, Kanton Aargau [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 189]. zu antworten, so habe ich selbstverständlich gegen Erwähnung meines Namens nichts einzuwenden. Ich müßte sie mir im Gegenteil wol noch zur Ehre anrechnen, wenn ich den namenlos verächtlichen Ton in Betracht ziehe, mi/in/ dem ich von Mieze und ihrem Bräutigam behandelt werde.

Du fragst mich theilnahmsvoll nach meinen Plänen und Erlebnissen und versicherst mich/r/, daß es nicht aus Neugierde sondern aus thatsächlichem Interesse geschehe. Wenn | wirklichSchreibversehen (Auslassung), statt: Wenn das wirklich. der Fall ist so möchte ich gerne offen zu dir sprechen. Wie ich aus deinem Brief ersehe, wenn ich ihn richtig verstanden habe wirst du vor der Hand nicht nach Dresden zurückkehren, sondern mit Mati zusammen wohnenTatsächlich hatte Emilie (Mati) Wedekind am 1.6.1896 eine dreijährige Lehrerinnenausbildung bei den Baldegger Schwestern des katholischen Klosters Baldegg, 30 km von Lenzburg entfernt, begonnen, wo sie auch wohnte, wie sie ihrem Bruder Armin am 4.5.1896 schrieb [vgl. AfM Zürich, PN 169.5:81].; wo unter welchen Verhältnissen, das hast du mir nicht geschrieben; davon hinge es aber ab, ob du mir eine sehr große Bitte erfüllen könntest. Vorderhand bitte ich dich aber um Verschwiegenheit. Da nur Du und Mati allein über Erfüllung meiner Bitte zu entscheiden hättet und beide alt genug seid, um das zu thun, so wäre es unnötig, daß sich andere mit der Frage beschäftigen zumal sie dir bei ihrer Engherzigkeit | nur den Rat geben könnten Nein zu sagen. Ich habe nämlich einen einjährigen JungenFrank Wedekinds und Frida Strindbergs gemeinsamer Sohn Friedrich Strindberg war am 21.8.1897 in München geboren. Mutter und Sohn lebten in Tutzing, wo Wedekind sie im Sommer besucht hatte [vgl. Wedekind an Beate Heine, 27.7.1898 und 14.8.1898]., einen Prachtskerl, sehr hübsch, äußerst ruhig, die Bewunderung eines Jeden der ihn sieht. Ich habe nun noch durchaus nicht die Gewißheit, daß ihn mir seine Mutter überlassen würde. Da es mir aber nicht möglich ist, mit der Frau zusammenzuleben, müssen wir uns auf irgendwelche Art zurechtfinden. Da sie mein Kind bei sich hat so giebt ihr das ein selbstverständliches moralisches Recht auf meine Person und die hiesige Gesellschaft würde es uns beiden nicht verzeihenIn seiner Korrespondenz mit Beate Heine schrieb Wedekind mehrfach von dem gesellschaftlichen Druck, unter dem er stand [vgl. Wedekind an Beate Heine, 27.7.1898 und 14.8.1898]., wenn wir uns vollkommen trennten. Anderseits hindert aber das Kind die arme Frau wesentlich daran sich ihr LebensglückUm eine Karriere als Journalistin und Übersetzerin zu verfolgen, gab Frida Strindberg ihren Sohn im Sommer 1899 in die Obhut ihrer Mutter Marie Uhl und ihrer Großmutter Marie Reischl im oberösterreichischen Saxen, wo bereits ihre Tochter Kerstin Strindberg lebte. auf eine andere Art zu gründen. Sie ist 26 Jahr alt. Ich habe dir in DresdenOb es nach dem gemeinsamen Aufenthalt in Dresden im Herbst 1896 dort noch einmal zu einem Zusammentreffen von Frank und Emilie Wedekind kam, ist ungewiss. das Zustandekommen unserer Beziehungen auseinandergesetzt. Ich | habe nie im Traum daran gedacht, sie zu heiraten und hielt sie nicht für so unerfahren, wie sie sich im Verlauf unserer Bekanntschaft erwiesen. Heute würde ich sie schon um des Kindes willen ohne Besinnen heiraten, wenn ein Zusammenleben nicht nach beiderseitiger tiefbegründeter Überzeugung ein Ding der Unmöglichkeit wäre.

Ich habe kaum ein Wort hinzuf/z/ufügen, liebe Mama, als daß ich dir natürlich unendlich des/zu/ Dank verpflichtet wäre. Ich schreibe dir nicht unter irgend welchem zwingendem Beweggrund. Wenn du dich entschließen könntest den Jungen zu dir zu nehmen, so schreib mir das in einer Art, daß ich den Brief seiner Mutter zeigen kann. Es würde das eventuell entscheidend und beschleunigend auf | ihren Entschluß wirken. Wenn du dich nicht dazu entschließen könntest, so wäre es nicht nötig auf die Angelegenheit mit einem Wort zurückzukommen oder sonstwo davon zu reden.

Was mich betrifft so bin ich am hiesigen SchauspielhausDas am 17.11.1897 von Emil Drach eröffnete Münchner Schauspielhaus (Neuturmstraße 1), in dem Georg Stollberg als Schauspieler und Oberregisseur engagiert war [vgl. Neuer Theater-Almanach 1898, S. 468], wurde von ihm, als „das Unternehmen finanziell zu scheitern droht“, im Sommer 1898 übernommen, „gemeinsam mit Cajetan Schmederer, Eigentümer eines der ersten hiesigen Geschäftshäuser“ [Vinçon 2014, S. 130] mit entsprechenden Geldmitteln; der Wechsel der Direktion war ökonomisch begründet, nicht konzeptionell. Georg Stollberg war nun Direktor des Münchner Schauspielhauses und stellte Wedekind als Dramaturgen, Schauspieler und Sekretär an [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 443]. Die Münchner Presse meldete erst kurz vor Eröffnung des Hauses unter neuer Leitung am 7.9.1898, dass Georg Stollberg „als Dramaturgen den Schriftsteller Frank Wedekind gewonnen“ [Allgemeine Zeitung, Jg. 101, Nr. 243, 3.9.1898, S. 6] habe. als Dramaturg und Schauspieler engagirtWie die Korrespondenz mit Georg Stolberg belegt, war Wedekind am 20.8.1898 bereits in seiner neuen Funktion tätig [vgl. Wedekind an Georg Stolberg, 20.8.1898], während er noch eine Woche zuvor die Arbeit für den „Simplicissimus“ als seine „Hauptbeschäftigung“ [Wedekind an Beate Heine, 14.8.1898] nannte. und zugleich Mitarbeiter des SimplicissimusWedekind war seit der ersten Nummer der illustrierten Wochenschrift „Simplicissmus“ am 4.4.1896 nicht nur regelmäßiger Beiträger, sondern auch redaktioneller Mitarbeiter der Zeitschrift [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 10.5.1896].. Ich habe beinahe jeden Abend zu spielen und zwar größere CharakterrollenIn der Schauspielpraxis des 19. Jahrhunderts wurden die Schauspieler und Schauspielerinnen verschiedenen Rollenfächern zugeordnet, eines davon waren die Charakterrollen: „Die Darsteller scharf ausgeprägter Charaktere nennt man Charakterspieler oder auch Intriguants, und die Rollen, welche die Aufgabe haben, den Charakter vollständig in seiner Entwicklung zu zeichnen, nennt man Ch[arakterrollen].“ [Adolf Oppenheim und Ernst Gettke (Hg.): Deutsches Theater-Lexikon. Eine Encyklopädie alles Wissenswerthen der Schauspielkunst und Bühnentechnik. Leipzig 1889, S. 165] „Die hauptsächlichen Rollenfächer im Schauspiel sind: Held (Heldin), Liebhaber (Liebhaberin), Väterrollen (Mütterrollen), Intriguant (Salondame), Komiker (Soubrette resp. naive und muntere Liebhaberin).“ [Ebd., S. 701], zweites FachUm die Relevanz der Rollen als Haupt- oder Nebenrollen zu charakterisieren, wurde innerhalb der Rollenfächer eine entsprechende Einteilung vorgenommen: „Durch die Bezeichnung ‚erste‘ (Helden, Liebhaber etc.) soll die besondere Stellung unter den Fachrivalen gekennzeichnet, meistens auch ein Monopol auf die bedeutenden Rollen des Faches eingeräumt werden.“ [Adolf Oppenheim und Ernst Gettke (Hg.): Deutsches Theater-Lexikon. Eine Encyklopädie alles Wissenswerthen der Schauspielkunst und Bühnentechnik. Leipzig 1889, S. 701]. Tags über bin ich theils auf der Redaction, theils im Theaterbüreau. Ende OktoberDie Premiere von „Erdgeist“ am Münchner Schauspielhaus fand am 29.10.1898 statt – mit Wedekind in der Rolle des Dr. Schön, die er schon bei der Uraufführung des Stücks in Leipzig (Regie: Carl Heine) am 25.5.1898 gespielt hatte. Die Presse kündigte an: „Samstag, 29. Oktober, findet die erste Aufführung der vieraktigenTragödie ‚Erdgeist‘ von FrankWedekind statt. Die Hauptrollen sind in den Händen der Damen Gnad, Delmar und Enzinger, sowie der Herren Sturm, Stock, Raabe, Wallner, Freyer, Robert und Wedekind. Dieser hat auch die Regie seines Stückes übernommen.“ [Münchner Schauspielhaus. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 51, Nr. 500, 29.10.1898, Vorabendblatt, S. 2] geht mein Erdgeist hier in Scene, wahrscheinlich spiele ich wieder die Hauptrolle. Daß er zu unserer großen Bestürzung in Wien bei | unserem dortigen GastspielDer „Erdgeist“ konnte während des Gastspiels von Carl Heines Ibsen-Theater in Wien vom 2.6.1898 bis 12.6.1898 nicht aufgeführt wurden. Geplant war eine Aufführung im Wiener Carl-Theater zunächst für den 5.6.1898, dann für den 11.6.1898. Die Presse berichtete: „Das für heute im Carl-Theater zur Aufführung bestimmt gewesene Lebensbild ‚Erdgeist‘ von Frank Wedekind wurde von der Censur verboten. – Einem Berichterstatter, der gestern den Verfasser des verbotenen Stückes, Herrn Frank Wedekind, mit dem Director des Ibsen-Ensembles, Herrn Dr. Heine, besuchte, sprachen diese ihr größtes Erstaunen über das Censurverbot aus. In Hamburg, Breslau, Stettin, Halle, Leipzig und allen anderen Städten Deutschlands, wo das Ensemble gastirte, sei das Stück anstandslos gegeben worden. […] Infolge dessen waren die Herren, als sie gestern Früh den lakonischen Bescheid erhielten, die Statthalterei sehe sich veranlaßt, die Aufführung als für Wien nicht geeignet zu untersagen‘, aufs Peinlichste überrascht. […] Herr Wedekind meinte sein Stück entspreche allen Anforderungen des Grafen Kielmannsegg. Staat, Gesellschaft, Moral seien in seinem Werke peinlich geschont, so daß sogar die socialistische Presse in Deutschland über ihn hergefallen sei. Selbst den Reactionären war er zu ‚lau und zahm‘. Der Dichter ist überzeugt, daß der Statthalter das Stück, wenn er es gelesen hätte, freigegeben haben würde.“ [Neues Wiener Journal, Jg. 6, Nr. 1663, 11.6.1898, S. 6] verboten wurde wirst du aus den Zeitungen ersehen haben. Augenblicklich suche ich nach einer neuen LuluDie Rolle der Lulu wurde in München von Milena Gnad gespielt, vormals Ensemblemitglied des Raimund-Theaters in Wien [vgl. Neuer Theater-Almanach 1898, S. 558], dann am Schänzli-Thater in Bern [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 273]., habe auch schon beinah eine gefunden, eine PrachtvolleSchreibversehen, statt: prachtvolle. pompöse Wienerin. Entschuldige, liebe Mama, ich werde unterbrochen.

Mit herzlichen Grüßen auch an Mati
Dein treuer
Frank.

Münchner Schauspielhaus
München.


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
Zürich
Seefeldstrasse 30.III.
Schweiz.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 6 Blatt, davon 7 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß. 12,5 x 20 cm. 6 Seiten beschrieben. Kuvert. 13 x 10,5 cm. 1 Seite beschrieben.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben. Kuvert im Querformat beschrieben.
Sonstiges:
Die Briefmarke wurde aus dem Kuvert ausgerissen. Auf der Kuvertrückseite ist von fremder Hand mit Bleistift „Doda, Frank Willy, Anna“ notiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Uhrzeit im Posteingangsstempel Zürich: „8“ (= 20 Uhr).

Erstdruck

Briefwechsel mit den Eltern 1868‒1915. Band 1: Briefe

(Band 1)

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Hartmut Vinçon
Verlag:
Göttingen: Wallstein
Jahrgang:
2021
Seitenangabe:
304-305
Briefnummer:
149
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Konvolut Burkhardt, Nidderau
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 14.9.1898. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

19.03.2024 13:00