Paris 1.2.92.
Liebe Mama,
bitte verzeih meinen letzten BriefDer Kontext legt nahe, dass es sich hier nicht um den letzten überlieferten Brief [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 21.1.1892], sondern um einen weiteren, danach geschriebenen, aber verschollenen Brief handelt; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 26.1.1892]., der in sehr deprimirter
Stimmung geschrieben war. Die Familie Perré war seither wirklich ausnehmend
liebenswürdig gegen mich und ich fürchte stündlich daß du bei deiner Vorliebe
für Aufrichtigkeit Mdm
Perré gegenüber etwas |
von meinem leichtfertig gefällten Urtheil durchblicken lassen möchtest. Eugène lag längere Zeit an der Influenza
darnieder. Letzten Freitagden 29.1.1892. war ich mit ihm, Mdm Perré
und einem Consul von Paraguay nebst Gemahlinnicht identifiziert. in einer Prosceniumsloge
der großen Oper. Eugène dessen Pathe jetzt Director der großen OperSeit dem 1.1.1892 war Eugène Bertrand Direktor der Pariser Oper. ist hatte
mich eingeladen. | Ich aß mit ihm in Neully zu Abend, worauf wir in die Stadt fuhren. Die Wiedergabe des
LohengrinDie von öffentlichen Protesten begleitete Premiere von Richard Wagners „Lohengrin“ in Paris fand am 16.9.1891 statt. hätte ich mir trotz vieler Unzulänglichkeiten doch nicht so gut
gedacht. Wir saßen in der Loge des Directors dicht hinter dem Vorhang. Leider
keimte in mir am nämlichen Abend die Influenza auf, so daß ich die größte Mühe hatte mit/geg/en
den Schlaf anzukämpfen. Mdm
Perré | fragte mich über
Tisch natürlich wieder ob ich keine Nachricht von dir hätte. Sie sagt sie
erwarte gleichfalls
einen Brief von dir. Also bitte schreibe ihr gelegentlich. Schreib ihr daß ich
begeisterte Briefe über sie schriebe und daß ich es nicht hoch genug zu
schätzen wisse in den mir völlig fremden Verhältnissen einen so
liebenswürdige Aufnahme zu finden.
Mieze wird gegenwärtig | wol bereits Lenzburg in AufregungErika Wedekind trat auf Einladung von Musikdirektor Hermann Hesse in Lenzburg am 7.2.1892 in Albert Lortzings komischer Oper „Hans Sachs“ (1840) in der Rolle der Goldschmieds- und Bürgermeisterstochter Kunigunde auf. Die Presse schrieb: „Sonntags den 7. Februar brachte der Musikverein Lenzburg im dortigen Theater die Lortzing’sche Oper ‚Hans Sachs‘ zur erstmaligen Aufführung und ließ derselben seither bei stets überfülltem Haus eine Reihe von Wiederholungen folgen. […] Ein glücklicher Zufall wollte es, daß gegenwärtig zwei Lenzburger Sängerinnen zur Verfügung standen, von denen die eine ihre künstlerischen Studien am Dresdener Konservatorium absolvirt hat, während die andere sich mitten darin befindet.“ [Neue Zürcher-Zeitung, Jg. 72, Nr. 50, 19.2.1892, Erstes Blatt, S. (2)] „Daß unter denjenigen schweizerischen Ortschaften, welche gelegentlich größere dramatische Werke mit eigenen Kräften zur Aufführung bringen, Lenzburg in der vordern Reihe steht, nehmen wir als bekannt an; allein es dürfte doch eine besondere Erwähnung verdienen, wenn das kleine Städtchen es fertig bringt, eine Oper zu geben, bei welcher sämtliche Rollen und alle Orchesterpulte mit einheimischen Kräften besetzt sind und zwar zum Teil in vorzüglicher Weise. Letzten Sonntag fand die erste Vorstellung statt. (Wiederholungen sind angesetzt für die nächsten zwei Sonntage, sowie Freitag den 12., Mittwoch 17. und Freitag 19. Februar.) […] In den denkbar besten Händen ist die Rolle der Kunigunde. Fräulein W. verfügt nicht nur über die erforderliche Schulung – die sie übrigens der Dresdener Musikschule verdankt – und ist nebenbei eine reizende Erscheinung und tüchtige Darstellerin.“ [Der Bund, Jg. 43, Nr. 42, 11.2.1892, Erstes Blatt, S. (3)]. versetzen.
Ich wäre sehr gespannt
etwas über ihren CherubinDie Rolle des Pagen Cherubino in Mozarts „La nozze de Figaro“ (1786) ist eine Hosenrolle, also für eine Frau geschrieben, die auf der Bühne einen Mann verkörpert und entsprechend gekleidet ist. zu hören. Kurz bevor ich München verließ, sah ich dort
d noch eine bestrickende Interpretation der Rolle von einer Frl BorchersDie 18jährige Schauspielerin und Opernsängerin Hanna Borchers war 1889 die Nachfolgerin von Emilie Herzog am Münchner Hoftheater. Sie debütierte dort am 8.1.1889 als Benjamin in Étienne-Nicolas Méhuls komischer Oper „Joseph von Ägypten“. Als Cherubino war sie in München vor Wedekinds Abreise zuletzt am 13.12.1891 zu erleben. Die Presse urteilte: „Der Page des Frl. Borchers war für das Ensemble zu schwach und beinahe unbedeutend.“ [Bayerischer Kurier, Jg. 35, Nr. 344, 15.12.1891, S. 5]. „Niedlich wie immer war die Erscheinung von Frl. Borchers als ‚Page‘. Wenn auch die Stimme leider nicht die erhoffte Entwicklung zeigt, so ist ihrem Vortrag doch nachzurühmen, daß er nie aus dem Stil fällt.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 44, Nr. 573, 15.12.1891, Morgenblatt, S. 4]
in hellblauem Atlas mit weißer Blousenweste
und Manschetten aus breiten Spitzen. Von der Stimme | abgesehen, in der ihr
Mieze ohne Zweifel gewachsen wäre verfügt sie allerdings über die reichsten
Mittel einer Hosenrolle gerecht zu werden. Aber das wird Mieze ja wol auch auf
dem Conservatorium gelernt haben. – Emmchen von Riesbach sieht einem Familienrathe
entgegen, in dem über Mieze und ihre eventuelle Bühnencarriere | ent/d/güld/t/ig
beschlossen werden soll. Sie meint es sei nachgerade Zeit, daran zu denken und fragt
michDie Frage seiner Schwägerin Emma Wedekind, mit der Frank Wedekind kaum direkt korrespondiert haben dürfte, stand vermutlich in nicht überlieferter Familienkorrespondenz zur Debatte. nach meiner Stellungnahme in dieser Angelegenheit. Bitte sag Mieze, meine
Ansicht gehe dahin, sie möge die Familie nach bestem Ermessen über sie
beschließen lassen und lediglich das thun, was ihr selber richtig erscheine,
indem die Familie weder pekuniär noch künstlerisch die Competenz besitze sie
bei der Wahl ihrer | Laufbahn zu beeinflussen.
Das Wetter ist hier jetzt ungefähr so wie bei uns im Mai, herrlich blauer Himmel,
laue Luft und dier ersten Veilchen. Wenn nur die Influenza schon
überstanden wäre. Grüße Mati zehntausend Mal von mir, gleichfalls Mieze und sei selber aufs herzlichste gegrüßt
von deinem treuen Brud Sohn
Franklin
4. Rue
Crébillon