Liebe Mama, ich möchte dich auf den Knien bitten aus dem Ton
meines Schreibens auf keine pesönlicheSchreibversehen, statt: persönliche. Stimmung dir gegenüber zu schließen. Ich möchte was
ich eben geschrieben zerreißen und noch einmal von vorn anfangen; aber wer sagt
mir daß es besser würde. ei/U/nd dennoch muß ich dir schreiben,
da ich weiß daß ich dir vielfach u/U/nrecht gethan. Ich werde das an
Doda sobald ich Gelegenheit finde wieder gut zu machen suchen. Über eines
glaube ich dich immerhin beruhigen zu können. Was Doda auch thun mag, ich glaub
nicht daß er der Mann ist um moralisch zu grunde zu gehen, geschweige denn
physisch; dazu ist er schon viel zu besorgt | um sein Leben. Was ihm passiren
könnte, ist das, daß er sich mal eines Tages umbringtDonald Wedekind nahm sich am 5.6.1908 das Leben., später, wenn er sich
geistig ausgewachsen. Ich habe mich während seines Hierseins sehr gut mit ihm
verstanden. Wir haben uns kaum ein einziges Mal gezankt. Dessen ungeachtet habe ich ihn unendlich
bedauern gelernt. Ich kenne keinen Menschen der so wenig veranlagt ist
glücklich zu sein wie er.
Ich bitte dich auch hinter meiner Stimmung nicht etwasSchreibversehen, statt: nicht etwa.
Unzufriedenheit mit
mir selber, Reue oder was derart zu suchen. Ich bin im Gegentheil concentrirter
denn je. Darin liegt auch die Ursache, in dem fortwährenden Angespanntsein |
und dem ewigen WartenWedekind hatte die als Privatdruck organisierte Publikation seines Lustspiels „Kinder und Narren“ noch für Ende 1890 erhofft, das Stück erschien jedoch erst im Januar 1891 [vgl. KSA 2, S. 630].. Es ist ja vorübergehend aber momentan kann ich dir mit
dem besten Willen keinen eingehenderen Brief schreiben. Ich weiß ja so gut, daß
wir uns wieder vollkommen verstehen, wenn wir uns wiedersehen, daß wir einander
zu verstehen überhaupt nicht aufgehört – Ich habe dich dessen in meinem letzten
Briefvgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 29.12.1890. versichert und bin und bleibe fest in der Überzeugung. Ich weiß daß du
gegenwärtig nach einem mitempfindenden herzlichen Worte dürstest, daß du dir in
deiner Einsamkeit jedenfalls zuviel Gedanken machst, unnöthige Gedanken, die an
Leib und Seele zehren ohne einem in der Welt etwas | zu nützen. Aber ich
bin ja selber dem Verschmachten nahe und bitte dich darum nur inständig, mir
meine Art und Weise zu verzeihen und dir so gut wie möglich über ZeitSchreibversehen (Auslassung), statt: über die Zeit.
hinwegzuhelfen, wie ich mir auch darüber hinwegzuhelfen suchen muß. Seit Papas
TodFriedrich Wilhelm Wedekind war am 11.10.1888 gestorben. sind noch kaum zwei Jahr vergangen. Was Wunder daß wir uns allesamt noch in
einer Übergangsperiode befinden. Da heißt es in Gottes Namen se/den/
Muth nicht sinken lassen und seinen Pfad zu verfolgen wie das Maulthier zwischen seinen
Scheuledern.
Also bitte nimm mir diesen Neujahrsbrief nicht übel. Er ist
gewiß so herzlich gut gemeint | wie er herzlich schlecht geschrieben ist. Wenn
du mir einen großen Gefallen thun willst, so schreibe mir wenn du gerade nichts
besseres zu thun weißt, damit ich sehe, daß du mich nicht vielleicht dennoch
falsch verstanden hast. Grüße mein geliebtes Mati viel tausendmal von mir und
sei selber aufs herzlichste gegrüßt von deinem dir unverändert ergebenen und
sich auf das Wiedersehn freuenden Sohn
Franklin
Akademiestraße 21 0. l.
Matis Bildvgl. die Photographie der 14jährigen Emilie (Mati) Wedekind [Münchner Stadtbibliothek/Monacensia. Nachlass Frank Wedekind. FW F 18; abgedruckt in: Vinçon 2021, Bd. 2, S. 325]. scheint mir einige Ähnlichkeit mit Hami zu haben
wie er in seiner Glanzperiode aussah, so etwa im näm|lichen Alter. Gysi in
Aarau Das 1843 in Aarau von Friedrich Gysi eröffnete Fotoatelier wurde seit 1863 von dessen Söhnen Otto und Arnold Gysi geführt, seit 1889 unter dem Namen Gysi & Cie unter Leitung von Otto Gysi jun.kenne ich als einen sehr schmeichelhaften Photographen. Indessen lebe ich
der Überzeugung, daß er es diesmal nicht gethan hat, respective nicht thun konnte. Zum Schluß wünsche
ich Dir und Mati ein recht, recht glückliches neues Jahr mit unerwarteten
Freuden und einiger Behaglichkeit zwischendurch. – Während des Schreibens
scheint sich der düstere Horizont meines Gemüthes nun doch einigermaßen
entwölkt zu haben.
Wenn du selber keine Zeit findest, dann schreibt mir vielleicht Mati einmal.
Ich würde ihr sehr sehr dankbar dafür sein. – Meine Empfehlung an Herrn
Zweifelvermutlich der Lenzburger Kolonialwarenhändler Adolf Zweifel, Ehemann von Blanche Zweifel, der Wedekind mehrere Gedichte gewidmet hatte..