Grunewald, 4/10 05
Sehr geehrter Herr Wedekind,
daß ich Ihren liebenswürdigen Besuch damalsWedekind notierte am 11.5.1905 in Berlin: „Besuch bei Maximilian Harden, Walter Rathenau und Gertrud Eysold die ich alle drei nicht treffe.“ [Tb] verfehlte, habe
ich aufrichtig bedauert, schrieb es Ihnen auchHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Maximilian Harden an Wedekind, 12.5.1905.. Und jetzt bin ich so von
Schmerzen gepeinigtMaximilian Harden litt unter anderem unter Zahnschmerzen und hatte Fieber, wie er am 4.10.1905 an Walther Rathenau schrieb: „Seit Sonntag früh keine schmerzfreie Minute. Linke Schulter (Nr. II) und linker Backzahn furchtbar vereitert. 40°, konstatierte mein Zahnarzt.“ [Hellige 1983, S. 422], daß ich noch nicht einmal Ihren HetmannWedekind spielte in „Hidalla“ am Kleinen Theater (Direktion: Victor Barnowsky) in Berlin die Hauptrolle des Karl Hetmann (Premiere war am 26.9.1905). Die Inszenierung, die allein bis zum Jahresende 40 Vorstellungen erlebte, hatte einen starken Publikumserfolg. sehen konnte, auf
den ich mich so sehr gefreut hatte.
(Uebrigens: Blödsinn genugDie Berliner Kritik hatte kaum Verständnis für die „Hidalla“-Inszenierung – man meinte gleich am 27.9.1905, „das Ganze“ sei „ein lauwarmer Kuddelmuddel dummer Weltbeglückungsideen und halber Ironien“ (Viktor Auburtin, „Berliner Börsen-Zeitung“), beklagte „Banalitäten“ (Arthur Eloesser, „Vossische Zeitung“), sprach von einer „philosophischen Clowniade“ (Norbert Falk, „Berliner Morgenpost“), sah „Wahnwitz ohne Methode“ und „klingenden Unsinn“ (F.H., „Berliner Lokal-Anzeiger“), aber auch ein „ernstes, strenges Thesenstück“ (Monty Jacobs, „Berliner Tageblatt“), sah einen „Vortrag in fünf Akten“ (Isidor Landau, „Berliner Börsen-Courier“), zählte es zu den „unverzeihlichen Theatersünden“ („Deutscher Reichs-Anzeiger“), meinte, „den Gedanken und Sehnsüchten Hetmanns fehlen Klarheit und Schlagkraft“ („National-Zeitung“) oder „Tragik und Groteske zerfließen ineinander“ (R.P., „Die Post“), man nannte das Stück am 28.9.1905 einen „Kopfläufer“ (Paul Lerch, „Germania“) oder am 29.9.1905 „ein aus Ödipus und Sphinx [...] scheußlich zusammengekuppeltes Ungeheuer“ (Julius Hart, „Der Tag“) [vgl. KSA 6, S. 551-558]. ist über Hidalla
geschrieben worden.)
Sobald ich irgend kann, komme ich ins Theater; und schlage
Ihnen für den Nachmittag ein RendezvousWalther Rathenau, der Wedekind ein Treffen womöglich gemeinsam mit Maximilian Harden vorgeschlagen hatte [vgl. Walther Rathenau an Wedekind, 3.10.1905], schrieb am 4.10.1905 an Harden: „Cher, ich habe Wedekind auf Sonnabend eingeladen; er spielt und kommt erst um 11h Wollen wir zusammen vorher das Stück sehen? Wir können ihn dann gleich mit nach Hause nehmen. Ein Telephonwort, damit ich Billets besorgen kann.“ [Hellige 1983, S. 424] Rathenau hat auf diesen Brief ein markantes Wedekind-Porträt gezeichnet [vgl. Hellige 1983, S. 430], das Harden „fabelhaft ähnlich“ [Hellige 1983, S. 428] fand. Er hat diesen Brief zu schreiben Wedekind angekündigt sowie die Uhrzeit am 7.10.1905 (Samstag) – 23 Uhr nach der „Hidalla“-Vorstellung (siehe oben) – bestätigt [vgl. Walther Rathenau an Wedekind, 4.10.1905]. Harden antwortete Rathenau am 5.10.1905, er fühle sich krank und könne Wedekind daher „leider nicht sehen. [...] Ob ichs Sonnabend kann, weiß Jahwe. [...] aber etwa orgiastisch zu schwärmen, wäre in meinem Zustand (3 Tage 40°) ganz unmöglich. Wie gräßlich leid mirs tut, wissen Sie. Hätten Sie, weniger despotisch, mich gefragt! Es ist fast stillos, daß ich nicht dabei sein soll. [...] Hidalla müssen wir jedenfalls zusammen sehen.“ [Hellige 1983, S. 428] Daraufhin suchte Rathenau Harden am 6.10.1905 zu überreden: „Sie müssen morgen abend kommen, wenn Sie ein netter Kerl sind. Ich habe W. ausdrücklich um einen Endtag gebeten, um Sie zu ‚sichern‘. Eben habe ich ihm notificiert, daß Sie auszubrechen suchten, weil ich weiß, daß er sich auf Sie spitzt, und anheimgestellt, zu verschieben, wenn er das Risico nicht will.“ [Hellige 1983, S. 430] Das Treffen zu dritt am 7.10.1905 im Anschluss an die „Hidalla“-Vorstellung fand stand, wie Wedekind notierte: „Triclinium mit Harden und Rathenau.“ [Tb] vor. Hierher kann ich Sie, da Sie jeden
Abend spielen, leider nicht locken.
Ich freue mich aufrichtig, Sie wiederzusehenÜber das Wiedersehen zu dritt ‒ Wedekind, Harden und Rathenau (siehe oben) ‒ am 7.10.1905 nach der Vorstellung von „Hidalla“ schrieb Rathenau am 8.10.1905 an Harden: „Lieber Maxim, es war doch ein famoser Abend [...]. Wedekind, in seiner neuen Erscheinung, war weniger Rätsel, aber sympathischer. Auch hat der große Eindruck der Vorstellung mich für ihn gestimmt.“ [Hellige 1983, S. 431], danke Ihnen
für Ihren Briefein Kartenbrief [vgl. Wedekind an Maximilian Harden, 2.10.1905]. und bin mit herzlichem Gruß,
Ihr
Harden
Eigentlich müßten Sie selbst Etwas über Ihr Drama schreibennicht realisierter Vorschlag; eine Stellungnahme Wedekinds zu „Hidalla“ ist in der Wochenschrift „Die Zukunft“ (Herausgeber: Maximilian Harden) nicht erschienen..
Ich wills auch versuchenMaximilian Harden äußerte sich über „Hidalla“ gut drei Monate später in einem großen Artikel über Wedekinds Gesamtwerk, indem er unter anderem bemerkte: „Hetmann ist das [...] mit dem Fluch der Lächerlichkeit beladene soziale Genie, das zusehen muß, wie andere, Hohlköpfe und Lumpen, munter Kinder zeugen, das mit dem Zwergriesenschädel gegen die Mauer des Familienhauses rennt“ ‒ ausgedrückt sei in der Figur „leidenschaftlicher Glaube, so mächtig der Rhythmus einer Persönlichkeit, daß dieser schönheitssüchtige Krüppel, der doch baren Unsinn bekennt, als ein echter Prinz aus Genieland vor uns steht.“ [M.H.: Theater. In: Die Zukunft, Bd. 54, Jg. 14, Nr. 25, 13.1.1906, S. 77-86, hier S. 86]. Das wäre aber kein Hinderniß.