Sophie Marti
entbietet den beiden Musenjüngern
Herrn Franklin
Wedekind u.
Herrn Karl
Henckell,
vor deren Geistes Leuchte und göttlichem Beruf sie sich in Demuth neiget,
Gruß und Heil!
Zugleich wagt sie es, voll Ehrfurcht und Vertrauen ihre
Augen aufzuheben und zwei inhaltsreiche Fragen, die ihrer Seele Tiefen entstiegen,
zur gnädigen
Beantwortung vorzulegen:
I Ist es wirklich nöthig, die göttliche Gabe der Poesie
immer und überall anzuwenden, auch da, wo sie | unter Umständen sogar
gefährlich werden könnte? Um deutlicher zu sein, sollte man sich nicht ein bischen in Acht nehmen, z. B.
in BriefenSophie Marti bezieht sich mit ihren ironischen Fragen auf Wedekinds scherzhaften Brief vom 23.1.1888. seine
Phantasie und sein schriftstellerisches Talent zu sehr walten zu lassen? Es kann sonst etwa ’mal Zeug
herauskommen, das Niemand auf der lieben Welt glaubt, am allerwenigsten der
Verfasser selber – ist’s nicht so, Herr Franklin?
II. Wie wär’s, wenn die beiden Götterjünglinge einmal
herunterstiegen von Olympos
HöhenDer Olymp ist das höchste Gebirge Griechenlands; in der griechischen Mythologie gilt er als Wohnsitz der Götter., sich zum heiteren Genuß ins bunte Gewühl der Sterblichen zu mischen? Es
bietet sich gerade dazu prächtige Gelegenheit, die Sie sicher nicht | unbenutzt
dürfen vorbeigehn lassen! Bitte lachen Sie mich nicht aus, aber ich kann doch
wahrhaftig nichts dafür, daß es mich sehr freuen würde, Sie Beide nächsten Donnerstagam 9.2.1888, dem ‚schmutzigen Donnerstag‘, an dem die Badener Fasnacht mit Fasnachtsbräuchen und den Maskenbällen begann. am Badener KurhausGemeint ist der 1875 eröffnete Kursaal der Stadt Baden.-Maskenball zu
treffen! Er beginnt um 8 Uhr, und soll sehr schön und sehr amüsant sein! Sie
dürfen aber ja nicht zu spät kommen, denn um halb 9 Uhr wird ein feiner Fischertanz
aufgeführt – ich freue mich ganz schrecklich – nicht sowohl weil ich dann allen
Leuten die Wahrheit sagen darf, als weil mir’s dann Niemand übel nimmt, was mir
leider nur zu oft passirt. Und dann ist’s ja auch ein herrliches Gefühl, einmal
| so von ganzem Herzen närrisch sein zu dürfen, während doch jeder heimlich bei
sich selber über seinen immensen Witz staunt! Aber bitte, kommen Sie, es wäre
zu nett, herausfinden werd ich Sie schon und amüsiren werden
Sie sich sicher auch.
Ich verspare also alle anderen Mittheilungen auf den
Donnerstag, nur etwas muß ich Ihnen noch schnell sagen, das Sie sicher
intressirt: Meine alte Theemaschinevermutlich ein Samowar.
ist nämlich in letzter Zeit mächtig stolz geworden und weigert sich des
Entschiedensten, gewöhnlichen Menschenkindern ihre Dienste zu leihen, seit sie, wie sie behauptet, einen
Begriff von „Etwas Höherem“ bekommen. Vergebens stelle ich ihr vor, daß | es
uns Menschen nicht anders ergeht, und wir uns drein fügen müßten,
trotzdem wir viel mehr sind als eine Theemaschine – Vergebens, sie bleibt
dabei, und so muß ich ihr wohl den Willen lassen.
GroßvaterSophie Marti, die im Januar 1888 Lehrerin in Oetlikon geworden war, wohnte bei der Müllersfamilie in der Dorfmühle. Der Großvater, der nur noch in seinem Bett lag, starb während ihres Aufenthalts im Herbst 1888 [vgl. Sophie Haemmerli-Marti: Mis Aargäu, Land und Lüt us miner Läbesgeschicht (1939], S. 118]. und ich werden mit
jedem Tag bessere Freunde, er erzählt mir viel aus seiner Jugendzeit, und fragt
dann oft ganz plötzlich, ob ich ihn/m/ nicht sagen könne, wie der Erfinder des
Blitzableiters geheißenDer Politiker (Mitautor der amerikanischen Verfassung), Schriftsteller und Erfinder Benjamin Franklin, nach dem Wedekind benannt worden war (Benjamin Franklin Wedekind), hatte 1752 den Blitzableiter erfunden.
habe? Sie sehen, auch hier sind Sie in gutem Andenken geblieben — Ihre Grüße machten große Freude und werden
herzlich erwidert.
Und nun leben Sie | wohl und laßen Sie sich Donnerstags
nicht vergebens suchen. - Doch was ist das? Leises Flüstern und Raunen von meiner
Bibliothek her, — versteh ich’s recht, so sind es beste Empfehlungen und Grüße
von d. Herren Goethe, Schiller, Lessing und Wieland an ihre werthen
Collegen in Zürich!
Apropos, wie Sie sehen, hab ich Ihnen das fidele PostreiseliedDas Volkslied „Die Stationen des Lebens“, von August Friedrich Langbein gedichtet und vertont, wurde zuerst 1788 in Weimar veröffentlicht [vgl. „Der Teutsche Merkur“, Jg. 16, 1788, 2. Bd., April, S. 373-374]. Der Großvater hatte das Lied Sophie Marti beigebracht [vgl. Sophie Haemmerli-Marti: Mis Aargäu, Land und Lüt us miner Läbesgeschicht (1939], S. 115]. hier zum
Andenken aufgeschrieben,
und hoffe, daß es Ihnen recht zu Gemüthe steigt! |
Auf fröhliches Wiedersehen denn im göttlichen Reiche der
Narrheit, und nochmals besten Gruß!
Oetlikon,
5./II 1888. S. M.
[Beilage:]
Altes Lied.
(Bekannte Melodie!)
Schon haben viel Dichter, die lange verblichen,
Das Leben mit einer Postreise verglichen;
Doch hat uns bis heute, so viel mir bekannt,
Die Poststatiónen noch keiner genannt.
Die erste geht sanft durch das Lädchen der Kindheit,
Hier seh’n wir, geschlagen mit glücklicher Blindheit,
Die lauernden Sorgen am Wege nicht stehn,
Und rufen beim Blümchen: Ei, eia, wie schön!
Wir
kommen mit klopfendem
Herzen zur zweiten,
Als Jüngling und Mädchen, die schon was bedeuten,
Hier setzt sich die Liebe mit uns auf die Post
Und reicht uns bald suße, bald bittere Kost! |
Die Fahrt auf der dritten giebt tüchtige Schläge,
Der heilige Ehstand verschlimmert die Wege,
Oft mehren auch Mädel und Jungen die Noth
Sie laufen am Wagen und schreien um Brod.
Noch ängstlicher ist auf der vierten die Reise
Für steinalte Mütter und wankende Greise.
Der Tod auf dem Kutschbock als Postillion
Jagt wild über Hügel und Thäler davon.
Auch Reisende, jünger an Kräften und Jahren,
Beliebt oft der flüchtige Postknecht zu fahren;
Doch alle kutschirt er zum Gasthof der Ruh’ –
Nun, ehrlicher Schwager, wenn das ist, fahr zu!
–––––
– Aus Urgroßvaters Gedächtnißkasten.