Zürich,
23 I 88.
Sehr
geehrtes Fräuleinin der förmlichen Anrede erster Hinweis auf den scherzhaften Ton des Briefs; – Sophie Marti aus Othmarsingen, Freundin von Frank Wedekind und seiner jüngeren Schwester Erika Wedekind, mit der sie die Bezirksschule Lenzburg und anschließend das Lehrerinnenseminar Aarau besuchte (1880 bis 1887) und die sie häufig auf Schloss Lenzburg besuchte. Frank Wedekind widmete ihr im Oktober 1884 das Gedicht „Sophie Marti“ (in griechischen Lettern) [vgl. KSA 1/I, S. 187-188; (Kommentar) KSA 1/II, S. 2047].
wenn es
Gottes Wille ist, so mag noch ein halbes Jahrhundert an mir vorübergleiten, ich
glaube von den Eindrücken vom vergangenem Samstagden 21.1.1888., wird es keinen Zug in meinem Gedächtniß aus
zu löschen vermögen. Sie, ein Engel des Himmels und eine irdische Gebieterin in
einem der Welt | abgelegenen
MenschenkreisNach ersten Erfahrungen als Privatlehrerin in Paris und als Vertretungslehrerin in Thalheim (Aargau) nahm Sophie Marti kurz nach Neujahr 1888 eine Stelle als Lehrerin in der aus 10 Häusern und 1 Mühle bestehenden Gemeinde Oetlikon (Aargau) an [vgl. Anna Kelterborn-Haemmerli: Sophie Haemmerli-Marti. Ein Bild Ihrer Jugend. In: Lenzburger Neujahrsblätter, Jg. 21, 1950, S. 36-54 (= Teil 1); 1951, S. 47-67 (= Teil 2)]., Sie, getragen von der Liebe, der Verehrung Aller, die Sie eines
Blicks eines Wortes würdigen, Sie, die begeisterte Kämpferin für Licht für
Freiheit, für alles Schöne das in ihrem Innern glüht – Sie stehen vor meiner
Seelen, eine leuchtende Gestalt, zu der das Auge sich nicht zu erheben
wagt. In den Staub vor Ihnen niedersinken und anbeten – anbeten – anbeten, das
wäre ein annähernd richtiger Ausdruck meiner Empfindungen – wenn Sie nicht |
selber ... o, jetzt möchte ich Sie lachen sehn.
Verzeihen
Sie den Erguß! Ich weiß schon, Sie werden an seiner Aufrichtigkeit zweifeln,
und zwar deshalb weil ich ihn in Worte zu kleiden vermochte. Es ist wahr, so
etwas läßt sich nicht wiedergeben.
Ich
schreibe Ihnen in erster Linie, um Ihnen noch einmal unserem/n/ beiderseitigen DankZusammen mit Karl Henckell besuchte Wedekind die Freundin in ihrem neuen Wirkungskreis in Oetlikon, wie er es in der Folge öfter tat (von Zürich aus waren es keine 17 Kilometer Fußweg): „Franklin studierte jetzt in Zürich und wanderte auch etwa nach Ötlikon, oft begleitet von dem jungen Lyriker Karl Henckell.“ [Kelterborn-Haemmerli 1951, S. 53]
auszusprechen für die fröhlichen Stunden, die wir im Bereich Ihres Sein’s und Wes/irk/en’s
verlebten. Und dabei umfängt | mich wiederum der heilige Schauer jener Welt
voll stiller Herrlichkeit, voll unbefangner Fröhlichkeit, voll Menschenwürde
und unerklärlicher Schönheit. Ich spreche in unserer Beider Namen. Ich weiß,
daß er Karl meine Gefühle vollkommen theilt.
ErSophie Marti dürfte Karl Henckell schon 1886 als Freund Erika Wedekinds kennengelernt haben, vermutlich noch vor Frank Wedekind. spricht wenig; das
ist nun so seine Art. Aber er fühlt um so mehr und deswegen möcht ich ihn
erdrosseln und möchte die Sterne aus ihren ewigen Bahnen am Firmament reißen,
möchte einen leuchtenden Kranz daraus | flechten, Ihnen damit die Stirne zu
krönen, Sie blutjungeSophie Marti wurde im Februar erst 20 Jahre alt.,
glückbringende und glückathmende Triumphatrix(lat.) siegreiche Feldherrin (weibliche Form zu Triumphator). auf dem Kriegszuge durch’s
Leben.
Verzeihung!
Verzeihung! Denken Sie sich, Sie hörten ein Kind, einen Ihrer SchülerSophie Marti unterrichtete in der Gesamtschule von Oetlikon 8 Jungen und 8 Mädchen der 1. bis 8. Klasse [vgl. Kelterborn-Haemmerli 1951, S. 51].; denken Sie sich, es
sei der HeiriKosename für Heinrich – Sophie Martis Lieblingsschüler in Oetlikon [vgl. Kelterborn-Haemmerli 1951, S. 51]., der so
zu Ihnen redete – meine Worte werden eher Gnade finden. Wie beneide ich den
Heiri um seinen PlatzAttraktiv war der Platz nicht nur wegen der jungen Lehrerin selbst, sondern auch wegen ihrer modernen pädagogischen Ansätze. So hatte Sophie Marti– entgegen der üblichen Geschlechtertrennung – an jede Schulbank einen Jungen und ein Mädchen gesetzt [vgl. Kelterborn-Haemmerli 1951, S. 51].
auf der Schulbank. Ich kann mich kaum der Vermuthung erwehrend, daß auch
ich unter solchen Verhältnissen ein etwas weniger trauriger Schüler | gewesen
wäre. Sie werden mir kaum able/ä/ugnen wollen, daß unendlich viel auf
die Lehrkräfte ankommt. Und die meinigen waren leider alle so ganz anders!
Und nun
grüßen Sie Alles von uns. Grüßen Sie Ihr poesievolles Stübchendas Turmzimmer der Oetlikoner Mühle. mit den lieben
kleinen Bogenfenstern; grüßen Sie die reiche Bibliothekdie Klassikersammlung Sophie Martis [vgl. Sophie Haemmerli-Marti an Wedekind, 5.2.1888]. und die trauliche ThemaschineSchreibversehen, statt: Theemaschine. – Es dürfte ein Samowar gemeint sein., den alten Großvater, Ihre Frau Wirthin, kurz, die ganze
freundliche MühleDas waren der Müller der Mühle Oetlikon und seine Frau, Tochter und Enkelkind Hans sowie der 1888 während des Aufenthalts von Sophie Marti verstorbene blinde Großvater, der ehemals Maschinenmeister war, und dessen Ehefrau. mit sammt dem Thurm und der steinernen
Wendeltreppe! Grüßen Sie ferner | die liebenswürdige Frau Säckinger und vergessen
Sie den Heiri
nicht! Sie selber aber müssen recht bald nach Zürich kommen. Benachrichtigen
Sie mich vorher davon. Und nun seien auch Sie, noch einmal mit herzlichem Dank,
von den beiden fahrenden Schühlern aufs ehrerbietigste gegrüßt.
Ihr ganz ergebenster
Fr. Wedekind.
Schönbühlstrasse 10
Hottingen
Zürich.
[Kuvert:]
Frl. Dr. paed. Sophie Marti.
Oetlikon
Bez. Baden.
Aargau.