Liebe Mama,
ich bitte dich zu verzeihen, daß ich heute erst schreibeWedekind hatte seiner Mutter einen Brief versprochen [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 22.11.1897].,
aber es ist der erste Tag, daß ich etwas zuSchreibversehen, statt: zur. Ruhe komme. Bis jetzt war ich
täglich irgend wo anders zum Tisch geladen. Die Aufnahme die ich hier
fand war die denkbar herzlichste. Der VortragWedekinds Lesung auf Einladung der Literarischen Gesellschaft in Leipzig am 26.11.1897 um 20 Uhr: „Litterarische Gesellschaft in Leipzig. Freitag den 26. November pünktlich 8 Uhr I. Gesellschafts-Abend im oberen Saale des Hotels de Pologne. I. Teil. Vortrag des Kunsthistorikers Georg Fuchs ‚über den neuen Stil in der angewandten Kunst.‘ II. Teil. Dichtungen von Frank Wedekind, vorgetragen vom Dichter.“ [Leipziger Volkszeitung, Jg. 4, Nr. 237, 25.11.1897, S. (4)]. Wedekind las, wie er dem Vorsitzenden der Literarischen Gesellschaft vorgeschlagen hatte [vgl. Wedekind an Kurt Martens, 28.10.1897 und 4.11.1897], Szenen aus „Frühlings Erwachen“, Gedichte, eine Szene aus „Der Kammersänger“ und die Erzählung „Rabbi Esra“ [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 185]. Die Lesung war nur mäßig besucht: „Der erste Vortragsabend, mit dem in diesem Jahre die Literarische Gesellschaft hervortrat, fand im Saale des Hotel de Pologne statt, und war nicht so zahlreich besucht, wie die früheren Abende, weil in diesem Jahre nur Mitgliedern der Gesellschaft der Zutritt gestattet ist.“ [Literarische Gesellschaft. In: Leipziger Tageblatt, Jg. 91, Nr. 612, 1.12.1897, Morgen-Ausgabe, 2. Beilage, S. 8837] ging flott von statten; ich
erhielt | seitdem sehr schmeichelhafte KritikenDie Presse urteilte nicht sonderlich schmeichelhaft über den Abend: „Der zweite Theil gab Herrn Frank-Wedekind Gelegenheit, aus einer Kindertragödie ‚Frühlingserwachen‘ einzelne Scenen vorzutragen, die mit ihrem gewaltsamen Gemüth von Komik und Tragik nicht gerade auf großen Beifall rechnen konnten. Vielleicht lag es auch am Vortrag, daß das Publicum sich nicht zu erwärmen vermochte. Er war auch für die folgenden Gedichte nicht günstig und man kann nicht behaupten, daß sich der Dichter hier mit Erfolg eingeführt hätte [Literarische Gesellschaft. In: Leipziger Tageblatt, Jg. 91, Nr. 612, 1.12.1897, Morgen-Ausgabe, 2. Beilage, S. 8837] Edgar Steiger urteilte am 27.11.1897 in der „Leipziger Volkszeitung“ (über „Rabbi Esra“): „In dem endlos ausgesponnenen Dialog, den der Dichter [...] etwas stockend aus dem Gedächtnis vortrug, erlahmte die Geduld des Publikums. Die beabsichtigte Wirkung blieb aus.“ [KSA 5/I, S. 765] Eine weitere Besprechung erschien in den „Leipziger Neuesten Nachrichten“ [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 185]. Franz Adam Beyerlein schrieb rückblickend über Wedekinds Lesung: „Er sprach großenteils frei, begleitete seine Worte mit eckigen, abgerissenen Gebärden, bleckte die Zähne und blitzte die verblüfften Zuhörer aus tiefliegenden Augen aufreizend an. In dem Einakter ‚Das Gastspiel‘, später ‚Der Kammersänger‘ betitelt, führte er die peinlichen Erlebnisse des großen Tenors sozusagen handelnd vor, wechselte je nach den Redenden Ton und Geste und erzielte einen fast vollständigen szenischen Eindruck.“ [Beyerlein 1923, S. 109], die ich aber direct nach
München schicken mußte.
Ich bin noch nicht dazu gekommen mir hier ein Zimmer zu
nehmen, werde es aber nächster Tage thun. Ich wohne hier Hôtel du Nord, BlücherstrasseWedekind logierte in Leipzig im Hôtel du Nord in der Blücherstraße 10; Besitzer war der Bildhauer Carl Friedrich Hermann Sachse, betrieben wurde es von Friedrich Carl August Wachsmuth [vgl. Leipziger Adreß-Buch für 1898, Teil I.2, S. 35], dem „Hôtelier des ‚Hôtel du Nord‘“ [Leipziger Adreß-Buch für 1898, Teil I.1, S. 947].,
Leipzig.
Und nun noch etwas, liebe Mama; ich sehe mich noch einmal in
der Lage, Mieze um 50 Mk bittenErika Wedekind schickte ihrem Bruder 100 Mark [vgl. Frank Wedekind an Erika Wedekind, 5.1.1898]. zu müssen. Ich schreibe an dich, weil
ich | nicht weiß, ob sie nicht vielleicht noch auf der TourneeErika Wedekind war auf Gastspielreise; sie hat zuletzt am Königlichen Hoftheater in Stuttgart die Titelrolle in der Oper „Lucia von Lammermoor“ gesungen [vgl. Filder-Bote, Jg. 26, Nr. 265, 22.11.1897, S. 1108] und sang am 7. und 9.12.1897 am Großherzoglichen Hof- und Nationaltheater in Mannheim in der Oper „Mignon“ die Titelrolle und in der Oper „Der Barbier von Sevilla“ die Rolle der Rosine [vgl. General-Anzeiger der Stadt Mannheim, Jg. 107, Nr. 333, 5.12.1897, S. 2]. ist. Ich erwarte
Geld von Langenvon dem Verleger Albert Langen in München Honorare für Wedekinds Beiträge im „Simplicissimus“ [vgl. KSA 1/II, S. 2235] und für Wedekinds im Sommer 1897 erschienenen Sammelband „Die Fürstin Russalka“ [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 133, 12.6.1897, S. 4287]. und von der JugendUnklar ist, wofür Wedekind von der Münchner illustrierten Wochenschrift „Jugend“ Geld erwartete, da er seinerzeit dort noch nichts veröffentlicht hatte und die nächsten Jahre dort auch nichts von ihm erschien; der Hintergrund der Bemerkung „lässt sich nicht mehr aufklären.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 186],
aber ich bin nicht sicher wann es eintrifft und durch einen Fehltritt kann ich
mir hier alles verderben. Ich habe noch 10 Mk; wenn du also nicht
mehr hast, dann bitte schicke mir umgehend wenn möglich 20 Mk. damit ich wenigstens einige Tage zuwarten kann.
Das Unternehmen mit meiner Pantomime„Die Kaiserin von Neufundland. Große Pantomime in drei Bildern“ [KSA 3/I, S. 57-90], gedruckt in Wedekinds Sammlung „Die Fürstin Russalka“ [vgl. KSA 3/II, S. 778], die im Sommer 1897 im Albert Langen Verlag in München erschienen ist (siehe oben). „Die im November 1897 von der ‚Literarischen Gesellschaft‘ in Leipzig geplante und für den Dezember vorgesehene Aufführung kam, da der Musiker Hans Merian die gewünschten Kompositionen nicht lieferte, nicht zustande.“ [KSA 3/II, S. 794] hier ist thatsächlich |
nur auf Geldertrag angelegt, deswegen wenn auch das nicht wieder fehlschlägt,
werde ich bis zum Frühling einträgliche Tantièmen zu beziehen haben. Im übrigen
werde ich regelmäßig arbeiten, sobald ich nur erst wieder eingerichtet bin,
aber das kalte Hotelzimmer ließ mich nicht rasch genug vorwärts kommen, um ganz
oh außer Sorge zu sein.
Ich fand in den hiesigen maßge|benden Kreisen sehr viel
Sympathie und die günstigste Stimmung. Nun will nämlich der Zufall, daß gerade
heute Abend Hartleben hier in demselben Hotel absteigt, in dem ich wohne. Einer
seiner Freundenicht identifiziert. hier sagte mir, daß er schon in Dresden nach mir gesucht habe.
Es scheint also daß er wieder einlenken willWedekind hatte sich mit Otto Erich Hartleben, Vorstandsmitglied der Berliner Dramatischen Gesellschaft [vgl. Neuer Theater-Almanach 1897, S. 281], überworfen, nachdem die geplante Uraufführung von Wedekinds Komödie „Die junge Welt“ durch die Dramatische Gesellschaft im Berliner Residenztheater [vgl. Frank Wedekind an Otto Erich Hartleben, 11.1.1897 und 18.1.1897], die so gut wie sicher schien, nicht zustande gekommen war [vgl. KSA 2, S. 631]. Otto Erich Hartleben notierte am 6.2.1897: „Krach mit Wedekind“ [Tb Hartleben].. Ich habe ihn noch nicht gesehen
aber es wäre mir von großer Wichtigkeit, da es mir für die Zukunft viele
Un|annehmlichkeiten ersparen würde, die mir andernfalls aus seinem bösen
Geschwätz überall erwachsen.
Bitte, liebe Mama, sag Mieze, sie möge nicht darüber böse
sein, daß ich nicht direct an sie schreibe. Ich fürchte nur, du könntest ihr
den Brief sonst vielleicht nachschicken und dann wäre sein Zweck verfehlt, da
ich jedenfalls vor Sonntag noch kein Geld aus München erhalte. | Meines aufrichtigen
Dankes ist Mieze gewiß. Ich mache meiner bescheidenen Welt gegenüber kein Hehl
daraus, wie und in welchem Maße sie mir geholfen hat. Grüße Sie bitte
herzlichst von mir und sei selber aufs beste gegrüßt von deinem
treuen Sohn
Frank
Hôtel du
Nord
Blücherstrasse.
Rudinoff war natürlich auch | hierWilly Rudinoff gastierte seit einiger Zeit im Leipziger Kristallpalast: „Im Variété-Theater des Krystall- Palastes sind bereits wieder neue Kräfte mit bestem Erfolge aufgetreten. [...] Aus dem früheren Ensemble sind in das neue mit eingetreten: Willy Rudinoff, Universalartist“ [Krystall-Palast. In: Leipziger Tageblatt, Jg. 91, Nr. 597, 23.11.1897, Morgen-Ausgabe, S. 8606]. bei meinem Vortrag. Er
brachte mir beruhigende Nachrichten aus München, wo er durch meine dortigen
Freunde Frau St.Frida Strindberg [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 8.9.1897]. kennen gelernt hatte. Jetzt ist er auf sechs WochenWilly Rudinoff wurde „von dem international mächtigsten Vaudeville-Manager jener Jahre, Benjamin Franklin Keith [...], für viele Monate auf eine Tournee kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten“ [Raff 2015, S. 35] engagiert, nicht nur auf 6 Wochen. „Es ist nicht klar, wie lange diese Tournee dauerte, aber spätestens im Sommer 1899 war Rudinoff zurück in Europa“ [Raff 2015, S. 36]. nach New York
gefahren.
[Kuvert:]
Frau
Dr. Emilie Wedekind
Struve Strasse 34.III.Emilie Wedekind war wie ihre Tochter Erika Wedekind in der Struvestraße 34 (3. Stock) verzeichnet [vgl. Adreßbuch für Dresden 1898, Teil I, S. 618].
Dresden.