Kennung: 4919

München, 9. Januar 1913 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Kleine Presse, (Zeitung)

Inhalt

Das System der städtischen Regie des Theaters hat sich in den Städten Zürich, Basel und Bern, wo ich das System selber kennen und würdigen lernte, vorzüglich bewährt. Sämtliche Mitglieder sind von höherem künstlerischen Stolz und Pflichtgefühl beseelt als wenn sie im Dienste eines Unternehmers stehen, der geradezu genötigt ist, bei jeder künstlerischen Frage den eigenen Vorteil im Auge zu behalten. Die Literatur, die neben der Musik leider immer das Stiefkind des städtischen Theaters ist, kann bei der direkten städtischen Regie nur gewinnen, da sie nirgends eine bessere Würdigung finden kann als bei denjenigen Männern, die mit den Problemen unserer Zeit selber aufs eingehendste zu rechnen haben. Die Musik, die sich auch in ihren erhabensten Formen mehr an den Genießenden als an den Mitschaffenden wendet, liefe deshalb noch lange nicht Gefahr, an die Wand gedrückt zu werden. Ein Aufsichtsrat wohlhabender Bürger wird in dem Augenblick entbehrlich, wo das Theater nicht mehr ein hilfe- und mitleidbedürftiges Pflegekind, sondern der Stolz und das weithin sichtbare Zeichen des Blühens und Gedeihens seiner Vaterstadt ist. Der Theaterleiter, dem in künstlerischen Fragen absolute Freiheit gewährleistet werden müßte, bedarf zur gedeihlichen Erfüllung seiner schweren Aufgabe allerdings einer sachverständigen Mitarbeiterschaft. Seine berufensten Mitarbeiter sind in erster Linie die Chefredakteure der maßgebenden Presse. Die Presse, die von vornherein das Schicksal aller künstlerischen Bestrebungen in ihrer Hand hat, indem sie deren Wirkung und Widerhall registriert, müßte von vornherein so an das Unternehmen gekettet werden, daß sie sich für Wohl und Weh des Theaters mitverantwortlich fühlt, und ihr der Weg vollkommen verlegt wäre, sich auf den Standpunkt eines teilnahmlosen oder gar bedauernden Zuschauers zurückzuziehen. Der geringste Darsteller fühlt sich von einem anderen Geist beseelt, wenn das Gespenst einer gleichgültigen, feindseligen oder gar gehässigen Presse nicht mehr vor seinen Augen auftauchen kann.

Auf Ihre Frage:Hinweis auf einen nicht überlieferten Anfragebrief; erschlossenes Korrespondenzstück: Kleine Presse an Wedekind, 8.1.1913. Nach dem Doppelpunkt folgt ein Zitat aus dem Anfragebrief, die letzte Frage in der Vorbemerkung zur Umfrage (siehe zum Erstdruck): „Was sollten die mittleren Großstädte tun, um die deutsche Theaterkultur zu heben?“ „Was sollten die mittleren Großstädte tun, um die deutsche Theaterkultur zu heben?“ weiß ich nur die eine Losung: Unabhängigkeit, Selbständigkeit, künstlerischer Stolz. – Jede Theaterstadt dürfte nur das eine Ziel vor Augen haben, durch den moralischen Mut, mit dem sie Neuaufführungen ermöglicht, durch die materiellen Opfer, die sie der Kunst bringt, sich vor allen anderen ihresgleichen auszuzeichnen.

München, 9. Jan.Wedekind notierte am 9.1.1913: „Brief an Kleine Presse Frankfurt“ [Tb]; er schrieb an die Zeitung „Kleine Presse“ in Frankfurt am Main (Große Eschenheimer Straße 37) [vgl. Adreßbuch für Frankfurt am Main 1913, Teil I, S. 252], verlegt von der Frankfurter Societätsdruckerei [vgl. Adreßbuch für Frankfurt am Main 1913, Teil VI, S. 119], die ihn um eine Antwort auf eine Umfrage gebeten hatte, die als offener Brief abgedruckt worden ist.

Frank Wedekind.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck überliefert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    9. Januar 1913 (Donnerstag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Frankfurt am Main
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an (Zeitung) Kleine Presse, 9.1.1913. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

23.11.2023 10:23