Das System der städtischen
Regie des Theaters hat
sich in den Städten Zürich, Basel
und Bern, wo ich das System selber
kennen und würdigen lernte, vorzüglich
bewährt. Sämtliche
Mitglieder sind von höherem künstlerischen Stolz und Pflichtgefühl beseelt als
wenn sie im Dienste eines Unternehmers stehen, der geradezu genötigt ist, bei
jeder künstlerischen Frage den eigenen Vorteil im Auge zu behalten. Die
Literatur, die neben der Musik leider immer das Stiefkind des städtischen
Theaters ist, kann bei der direkten städtischen Regie nur
gewinnen, da sie nirgends eine bessere Würdigung finden kann als bei denjenigen
Männern, die mit den Problemen unserer Zeit selber aufs eingehendste zu rechnen
haben. Die Musik, die sich auch in ihren
erhabensten Formen mehr an den Genießenden als an den Mitschaffenden wendet,
liefe deshalb noch lange nicht Gefahr, an die Wand gedrückt zu werden. Ein
Aufsichtsrat wohlhabender Bürger wird in dem
Augenblick entbehrlich, wo das Theater nicht mehr ein hilfe- und
mitleidbedürftiges Pflegekind, sondern der Stolz und das weithin sichtbare
Zeichen des Blühens und Gedeihens seiner Vaterstadt ist. Der Theaterleiter, dem
in künstlerischen Fragen absolute Freiheit gewährleistet werden müßte, bedarf
zur gedeihlichen Erfüllung seiner schweren Aufgabe allerdings einer
sachverständigen Mitarbeiterschaft. Seine berufensten Mitarbeiter sind in
erster Linie die Chefredakteure der maßgebenden Presse. Die
Presse, die von vornherein das Schicksal aller künstlerischen Bestrebungen in
ihrer Hand hat, indem sie deren Wirkung und Widerhall registriert, müßte von
vornherein so an das Unternehmen gekettet werden, daß sie sich für Wohl und Weh
des Theaters mitverantwortlich fühlt, und ihr der Weg vollkommen verlegt wäre,
sich auf den Standpunkt eines teilnahmlosen oder gar bedauernden Zuschauers
zurückzuziehen. Der geringste Darsteller fühlt sich von einem anderen Geist
beseelt, wenn das Gespenst einer gleichgültigen, feindseligen oder gar
gehässigen Presse nicht mehr vor seinen Augen auftauchen kann.
Auf Ihre Frage:Hinweis auf einen nicht überlieferten Anfragebrief; erschlossenes Korrespondenzstück: Kleine Presse an Wedekind, 8.1.1913. Nach dem Doppelpunkt folgt ein Zitat aus dem Anfragebrief, die letzte Frage in der Vorbemerkung zur Umfrage (siehe zum Erstdruck): „Was sollten die mittleren Großstädte tun, um die deutsche Theaterkultur zu heben?“ „Was sollten die mittleren Großstädte tun,
um die deutsche Theaterkultur zu heben?“ weiß ich nur die eine Losung: Unabhängigkeit, Selbständigkeit, künstlerischer Stolz. – Jede Theaterstadt dürfte
nur das eine Ziel vor Augen haben, durch den moralischen Mut, mit dem sie
Neuaufführungen ermöglicht, durch die materiellen Opfer, die sie der Kunst
bringt, sich vor allen anderen ihresgleichen auszuzeichnen.
München, 9. Jan.Wedekind notierte am 9.1.1913: „Brief an Kleine Presse Frankfurt“ [Tb]; er schrieb an die Zeitung „Kleine Presse“ in Frankfurt am Main (Große Eschenheimer Straße 37) [vgl. Adreßbuch für Frankfurt am Main 1913, Teil I, S. 252], verlegt von der Frankfurter Societätsdruckerei [vgl. Adreßbuch für Frankfurt am Main 1913, Teil VI, S. 119], die ihn um eine Antwort auf eine Umfrage gebeten hatte, die als offener Brief abgedruckt worden ist.
Frank
Wedekind.