Freiburg, 20. Dezember 83
[Zeichnung]
Werther Herr Bundesbruderim Freundschaftsbund „Fidelitas“, den Frank und Armin Wedekind, ihre Cousine Minna von Greyerz sowie deren Freundinnen Mary Gaudard und Anny Barck im Herbst 1883 gegründet hatten. Ihr Zeichen war der Regenbogen.
Minna wird Ihnen wohl einstweilen meinen Dank für
den großen Briefvgl. Wedekind an Anny Barck, 29.11.1883.
ausgesprochen haben. Den Grund meiner späten Antwort ebenfalls. Ich hoffe im
neuen Jahre pünktlicher antworten zu können, falls wir nicht wieder mit 5 mannhohem
Besuch überrascht werden sollten.
Beim Beginn unseres Briefwechsels mache ich nun
gleich den Vorschlag den RandDie Breite des linken Briefrands wie auch die Abstände zwischen Anrede, Brieftext und Unterschrift waren Zeichen des Respekts seitens des Briefschreibers oder der -schreiberin (je größer die Abstände, desto mehr Respekt wurde gezollt).
an unsern Briefen entweder gleich wegzulassen oder auf möglichst kleine
Dimensionen zu beschränken; es ist viel prak|tischer so; Sturmwindim Freundschaftsbund das Pseudonym von Minna von Greyerz; Armin Wedekind nannte sich Boreas (der winterliche Nordwind), Frank Wedekind Cephyr (der Gott des Westwinds), Mary Gaudard Nordpol, Anny Barck Glanzpunkt. u. ich haben das
auch schon längst so eingerichtet. Dann habe ich gar nichts gegen die
Verabschiedung mit Ihrem tiefsten Complimente dessen Schönheit in Wirklichkeit ich
mir lebhaft
vorstellen kann, bitte aber den Satz vom „gelangweilt haben“ in Zukunft hübsch weg
zu lassen. So was kann ich nun einmal nicht leiden, um uns gegenseitig zu langweilen schreiben wir uns
doch wohl nicht, wollen deßhalb auch nicht von vornherein annehmen, daß wir es
thun u. uns demgemäß entschuldigen, nicht wahr? Nun habe ich noch eines zu
bemerken; sollte Eins das Andere einmal nicht recht verstehen, oder gar etwas übel nehmen, so wollen
wir gleich ausmachen daß das jeweils im nächsten Briefe bemerkt, offen gesagt |
und auseinandergesetzt wird, damit es keine Mißverständnisse gibt, denn die
hasse ich. Was sagen Sie nun zu all diesen Bedingungen? Haben Sie etwelcheirgenwelche, einige. Wünsche derart, so
werden Sie dieselben hoffentlich im nächsten Briefe auch offen aussprechen,
nicht wahr?
Nun komme ich gleich zu dem interessanten Thema
über die Vernunft der Thierevon Wedekind in seinem Brief aufgeworfene Thematik.; die
Scene m/b/ei
Schillerin Schillers Drama „Wilhelm Tell“ (1. Aufzug, 1. Szene, V57-61); nach einem Wortwechsel zwischen dem Hirten Kuoni und dem Fischer Ruodi über das Thema Vernunft spricht der Jäger Werni: „Das Thier hat auch Vernunft, / Das wissen wir, die wir die Gemsen jagen, / Die stellen klug, wo sie zur Weide gehn, / ’ne Vorhut aus, die spizt das Ohr und warnet / Mit heller Pfeife, wenn der Jäger naht.“ [Schillers sämmtliche Schriften, Bd. 14, S. 274] habe
nachgelesen, natürlich auch des MondregenbogensGemeint ist die Schauplatzbeschreibung in Schillers Drama „Wilhelm Tell“ (2. Aufzug, 2. Szene): „Eine Wiese von hohen Felsen und Wald umgeben. Auf den Felsen sind Steige, mit Geländern, auch Leitern, von denen man nachher die Landleute herabsteigen sieht. Im Hintergrund zeigt sich der See, über welchem anfangs ein Mondregenbogen zu sehen ist. Den Prospekt schließen hohe Berge, hinter welchen noch höhere Eisgebirge ragen. Es ist völlig Nacht auf der Scene, nur der See und die weißen Gletscher leuchten im Mondlicht.“ [Schillers sämmtliche Schriften, Bd. 14, S. 315] wegen. Einwendungen gegen die Vern. d. Th. mache ich
keine mehr, sondern bin schon längst überzeugt worden. Jenes Gespräch an das ich mich noch sehr gut erinnere
(war es es nicht an jenem ereignißreichen Abendwährend Anny Barcks Besuch bei Minna von Greyerz in Lenzburg um den 24.7.1883 [vgl. Anny Barck an Frank und Armin Wedekind, 6.8.1883]. mit der
Hausschlüsselgeschichte?) ging mir noch lange im Kopf herum und in der |
[EinschubAnlass für den Einschub sind 4 auf der zunächst leeren Seite verteilte Tintenflecke, die Anny Barck kommentiert und dann überschreibt.
auf Seite 4 am rechten Rand um 90 Grad
gedreht:]
Ha Sie bekommen doch auch gleich
einen hübschen Begriff von meiner Reinlichkeit! DintendolkenTintenklekse; das Wort verwendet Eduard von Mörike in der 2. Strophe seines Gedichts „An Fräulein Luise v. Breitschwert“: „Freund Kerner legte sich, im Reiseschattensinn, / Ein Album an, da quetscht er Dintendolken drin, / Und zeichnet jeden Klecks nach seiner Phantasey / Mit Wen’gem aus und freut sich wie ein Kind dabei: / Wird Der nicht Augen machen, wenn er sieht, / Wie anders dir der Spaß geriet!“ [Eduard von Mörike: Gedichte. 4. verm. Auflage, Stuttgart und Tübingen 1867, S. 368], ich bin wirklich unschuldig daran, sie müssen
hergeflogen sein, aber ich kann doch die 3 Seiten nicht nochmals schreiben? Ich
schicke den Bogen nun trotzdem ab und wenn Sie einenSchreibversehen, statt: eine. gar zu schlechten Ansicht bekommen,
kann mir Sturmwind feierlichst bezeugen, daß ich
selbst derart meine Briefe verziere. Also nichts für ungut!
[Fortsetzung
des Brieftexts:]
ersten Zeit meines Hierseins, sprach ich mit dem Bräutigamnicht ermittelt. meiner Freundinnicht ermittelt. darüber, der mir
nun mit klaren Worten bewies, daß Sie mit Ihrer Behauptung Recht hatten; zur
selben Zeit hatte ich auch mehrfach Gelegenheit eine Katze zu beobachten, was
ich m/a/uch mit großem Interesse that u. die bewies durch ihr Benehmen
deutlich daß sie dachte/Vernu/nft dencken mußte hatte.
Als ich damals Ihre Behauptung bestritt meinte
ich eigentlich mehr dies unaufhörliche Denken des Menschen über Dinge die nicht
dem täglichen Leben, Essen, Trinken, Schlafen. pp angehören, um welches sich
doch so | ziemlich die Vernunft der Thiere dreht, sondern das Beschäftigen mit
etwas Höhern, das Nachdenken über das Leben u. Sterben, über das Dasein
überhaupt p p Wenn ein Thier noch so klug ist so bleibt es doch immer
ein Thier und der Gedanke
ist mir unmöglich ein solches könne jemals darüber nachdenken warum es auf der
Welt ist od. sich
gar unglücklich fühlen daß es da ist. Sie wandten mir damals ein, „aber das
können Sie ja gar nicht wissen, ob sie/ein/ ein Thier nicht auch darüber
nachdenkt“. Allerdings beweisen kann man es nicht aber Sie können mir doch auch
das Gegentheil nicht beweisen! Versuchen Sie nur mich zu überzeugen, gegen
schlagende Beweise sträube ich mich nie, doch vielleicht sind wir gar nicht so
weit auseinander in dieser Ansicht Beziehung, als ich meine. Ich bin
sehr begierig was Sie darüber schreiben werden. Also die Vernunft der Thiere,
sogar außergewöhnliche Klugheit gebe ich vollständig zu, aber ihr „Denken“
beschränkt sich auf’s materielle Leben. Freundin Minna soll ihre diesbezüg|lichen
Ansichten nur auch entwickeln im nächsten Briefe.
Freitag: 21.
So die Weihnachtsgutzerl(schweiz.; süddeutsch) Bonbon, Süßigkeit. wären gebacken und das versprochene soll heute
Abend noch feierlichst eingepackt und morgen zur Post gebracht werden.
Hoffentlich kommt es unverbrochen an um als glänzender Zeuge meiner hie und da
angezweifelten Kochkunst zu dienen. –
Vorhin las ich meinen bis jetzt geschriebenen
Brief durch und stoße mich nun sehr am „materiellen Leben“ des letzten Satzes. Ich
glaube ich habe mich da sehr schlecht ausgedrückt, die ganze Bezeichnung kann
man wohl kaum beim Thiere anwenden; nun wie dem auch sei hoffe ich, daß Sie das
was ich damit sagen wollte verstanden haben, und das ist schließlich die
Hauptsache.
Wie steht es denn mit Medea? Ich kann Ihnen diese Lektüre
nur anempfehlen, Sie werden gewiß genußreiche | Stunden dadurch verleben; Minna
und ich waren beide ganz begeistert und hingerissen durch die Großartigkeit.
Sie müssen aber nicht mit Medeadritter Teil von Franz Grillparzers Trilogie „Das goldene Vließ“ (1821). beginnen sondern mit dem „goldenen FließAnny Barck dürfte die ersten beiden Teile von Grillparzers Trilogie „Das goldene Vließ“ (1821) gemeint haben, das sind „Der Gastfreund“ und „Die Argonauten“..“ Ich bin wirklich sehr begierig
wie es Ihnen gefallen wird. haben Sie sonst schon Sachen von Grillparzer gelesen? Von Heine habe ich seit
langer Zeit nichts mehr gelesen, erinnere mich aber immer mit großem Entzücken
an die vor 1½ Jahren durchgegangenen „Reisebilder“. (die Bäder von Luccadas italienische Reisebild „Die Bäder von Lukka“ (1830) [H. Heine: Reisebilder. Dritter Theil. Hamburg 1830]. p p) Es waren wunderbar
schöne Stellen darin, die ich mir abschrieb und immer wieder gern lese. Minna
hat dieselben auch, wenn ich nicht irre, und wenn es Sie interessirt was mir so
gut gefiel, soll S/s/ie Ihnen dieselben zu lesen geben. Freilich kamen
auch Stellen in genanntem Buche wo ihn nicht nur „das Liebste zu verhöhnen, sein Lied verführtVers aus Hermann Klettkes Gedicht „Heinrich Heine“, das Anny Barck im Sommer für Wedekind abgeschrieben hatte: „O, zürnt ihm nicht, der jetzt mit Liebestönen / Das Herz Euch rührt, / Dann aber selbst – das Liebste zu verhöhnen – / sein Lied verführt [...]“ [Anny Barck an Wedekind, 1.7.1883].“
sondern die/wo/ man/er/ fast trivial nennen/wurde/, könnte, wenigstens wurde ich manchmal versucht | das
Buch geradezu aus der Hand zu werfen. Es ist das an Heine, was Minna so an ihm
abstieß und ohne d/w/as er aber nicht Heine wäre. Nun, schließlich haben
wir sie doch noch gewonnen durch seinen herrlichen in meinem Poesiebuch verewigten Worte „daß man das Gute um des Guten willen thun
soll p pin Anlehnung an den kategorischen Imperativ Immanuel Kants in der Pflichtenethik.“. Ich weiß noch so gut wie ärgerlich ich früher immer wurde, wenn
M. meine
Begeisterung für diesen Dichter nicht theilte und nicht verstand und wie ich
aufjauchzte, als sie mir eines schönen Tages mittheilte, daß ihr auch von anderer
Seite, von einem gewissen Vetter
FranklinFrank Wedekind und Minna von Greyerz waren über ihre Mutter, eine geborene Wedekind, sehr weitläufig miteinander verwandt. viel von Heine erzählt werde u. derselbe ganz auf meiner Seite
sei. Da machten wir unsere erste Bekanntschaft und müssen Heine wohl auch
dankbar dafür sein! Sie meinen er würde wenig gelesen; seine GedichteHeinrich Heines Gedichtsammlungen „Gedichte“ (1822) und „Buch der Lieder“ (1827) waren schon zu seinen Lebzeiten in mehreren Auflagen erschienen. doch wohl kaum. Im Allgemeinen
glaube ich sind die Urtheile sehr verschieden über ihn, jugendliche
Verehrerinnen u. Verehrer von ihm lernte ich schon viele kennen, ältere
weniger. | Daß Sie so lebhaft Propaganda machen freut mich natürlich,
und wünsche nur fortgesetzten guten Erfolg. –
Sowie ich nach Weihnachten Zeit habe werde ich
mir Lorms WerkeWedekind hatte in seinem Brief Lorms Novellensammlung „Am Kamin“ und seine „Gedichte“ besonders empfohlen [vgl. Wedekind an Anny Barck, 28.11.1883]. zu verschaffen
suchen; ich muß
gestehen Sie verstehen es Propaganda zu machen denn durch das, was Sie mir von
ihm erzählt, hat er sich schon im Voraus meine Sympathie erworben, der blinde
Sänger, oder ist es nur das Mitleid?
Wollf's RattenfängerSchreibversehen, statt: Wolff’s Rattenfänger; wie aus einem Brief an ihre Freundin hervorgeht, kannte Anny Barck das Buch schon ein halbes Jahr zuvor: „Dann wollte ich Dich noch fragen ob Du Wolff’s „Rattenfänger von Hameln“ kennst, andernfalls würde ich ihn mitbringen.“ [Anny Barck an Minna von Greyerz, 1.7.1883 (Mü, FW B7)] gefiel mir zuerst gar nicht, als ich es wieder las,
bedeutend besser. Die vielen Thierstimmen klingen allerdings etwas gemacht
überhaupt die Sprache in manchen Gesängen. Im Ganzen war ich doch ziemlich befriedigt. Daß Ihnen Andersen’s Bilderbuch auch so
gefällt, ist wirklich
hübsch; es sind ganz reizende Bilder und ist es eines meiner liebsten Bücher.
So, nun wär's aber genug über Lektüre; plaudern
wir noch ein wenig über Lenzburg
und die Schloßbewohner.
Ich bin nämlich ein klein wenig neugierig | und möchte Verschiedenes wissen. In
welchem Zimmer haben Sie den Brief geschrieben und wo saß Ihre Mutter und die Kleinen Sie werden gewiß
lachen, aber ich kann es mir dann g/b/esser vorstellen, bei Minna weiß
ich’s auch immer gern ob sie am „Traumfenster“ od. neben dem Klavier schreibt. Ferner schreiben
Sie mir bitte als etwas mehr über die Ihrigen, das interessirt mich sehr. Steht
das Klavier noch im Wohnzimmer od. wieder im einstigen Tanzsaal? Wo sind Sie des Abends gewöhnlich,
ich meine nämlich in welchem Zimmer, und was wird getrieben? Wie geht es denn
auf der Cantonsschule?
Sie sind gewiß froh wenn dies Semester vorüber u. Sie frei werdenAm Ende des Schuljahres (10.4.1884) erhielt Wedekind sein Maturazeugnis.!
Ist Herr SpilgerAdolf Spilker aus Vilsen bei Hannover, der in der Apotheke Bertha Jahns in Lenzburg tätig war und für den sich Anny Barcks Freundin Minna von Greyerz interessierte.
Herr Bruder] Armin Wedekind studierte seit dem Wintersemester 1883/84 in Göttingen Medizin.
ein guter Freund von Ihnen und was ist es
eigentlich für ein
Mensch? Kommt Minna an Weihnachten od. an Sylvester auf’s Schloß? Erzählen Sie mir auch ein wenig im
nächsten Briefe wie Sie die Weihnachtsfeiertage zugebracht haben und ob die Kleinendie drei jüngsten Geschwister Erika, Donald und Emilie (Mati) Wedekind. recht vergnügt
waren. Schreibt Ihr Herr BruderArmin Wedekind studierte seit dem Wintersemester 1883/84 in Göttingen Medizin.
| fleißig, und gefällt
es ihm in Göttingen?
Nun wären es aber genug Fragen, werden Sie denken und deßhalb will ich
geschwinde schließen. Grüßen Sie all die Ihrigen recht herzlich von mir, an Frau DoktorEmilie Wedekind; Frank Wedekinds Vater war promovierter Arzt. werde ich
nächstens schreiben.
Dem armen gefangenen TannhäuserWedekind, der sich Ende November in Blanche Zweifel verliebt hatte, nannte sich in Gedichten an sie ‚Tannhäuser‘ und sie ‚Frau Venus‘. – Der Sage nach begab sich Tannhäuser in den Venusberg, wo ihn Frau Venus, die Göttin der Liebe, die wahre Sinnlichkeit lehrt, was als sündiges Verhalten gewertet zu seiner Verdammnis in der Welt führte und ihn zur Rückkehr in den Venusberg veranlasste. Zu den zahlreichen literarischen Bearbeitungen des Motivs zählt auch Heinrich Heines Gedicht „Der Tannhäuser. Eine Legende“ (1844). wünsche ich baldige Erlösung od. Befreiung, vergnügte
Feiertage und ein glückliches neues Jahr. Mit Gruß
Ihre Bundesschwester
Anny Barck
Auch unserm Bunde
[Zeichnung]
im neuen Jahr ein fröhlich Gedeihen!