Solothurn den 14. Dezember 1890
Lieber Bebi!
Schon lange trug ich mich mit dem Gedanken, mir neueJägerhemdendie von dem Zoologen und Hygieniker Gustav Jäger seit Ende der 1870er Jahre propagierte und vertriebene Ober- und Unterbekleidung aus Wolle, sogenannte Normalkleidung, die sich großer Popularität erfreute. Gustav Jäger versuchte nachzuweisen, „daß die spezifischen Duftstoffe in der Ausdünstung der Tiere die Erzeuger der Affekte, Triebe und Instinkte […] sind. Im Verfolg dieser Studien gelangte er zu einem neuen Bekleidungssystem, welches jede Pflanzenfaser als schädlich verwirft und lediglich wollene Kleider gestattet. Er rief eine lebhafte Agitation für seine ‚Normalkleidung‘ ins Leben, hat aber auf dem ganzen Gebiet sehr entschiedenen Widerspruch gefunden.“ [Meyers Konversations-Lexikon. 4. Aufl., Bd. 9. Leipzig, Wien 1890, S. 131] Frank Wedekind ließ den Dichter Franz Ludwig Meier in seinem Lustspiel „Kinder und Narren“ (1891) „während des ganzen Stückes in Jäger’scher Normalkleidung“ [KSA 2, S. 121] auftreten; Vorbild der Figur war Gerhart Hauptmann [vgl. KSA 2, S. 693], über den er am 26.5.1889 notierte: „Gerhart H. sieht [...] aus wie ein Tollhäusler, mit seinem grotesken, etwas blöden Profil, mit rattenkahl geschorenem Kopf, in schweren, nußfarbig dunklen Wollkleidern, die ihm um den Leib hängen, als hätte sie der erste beste Dorfschneider verfertigt.“ [Tb] kommen zu lassen. Da die 3, die ich mir letzten Winter kommen ließ,
ihrer vollständigen Auflösung entgegen gehen. Da mir die Adresse von S. Waldo
das Wäschegeschäft – Manufakturwaren und Trikotagen – S. Waldo (Inhaber: Selig Waldo) in Berlin (Spandauerstraße 75) [vgl. Berliner Adreß-Buch für das Jahr 1891, Teil I, S. 1376].fehlt, bitte ich dich, mir dieselbe noch vor dem 24. dieses Monats senden zu
wollen, so du dich ihrer noch erinnerst. Es bedarf dazu de nur einer
Postkarte, auf welcher du mir die Adresse mitteilst und ich werde befriedigt
sein. Zugleich könntest du mich dann auch wissen lassen, ob Mieze in MünchenErika Wedekind war auf der Durchreise von Lenzburg nach Dresden seit dem 7.12.1890 für einige Tage zu Besuch bei ihrem Bruder in München gewesen [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 6.12.1890 und 12.12.1890]. eingetroffen
ist, oder nicht. Die Ferien, die am 24 beginnen, werde ich in Zürich zubringen,
indem ich bei Frau LeemanEmilie Leemann (geb. Kammerer), Witwe von Gustav Leemann, wohnte mit ihren drei Töchtern im Zürcher Vorort Riesbach (Feldeggstraße 52) [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich 1890, Teil I, S. 199]; sie war eine Cousine von Wedekinds Mutter. ein Zimmer nehme. Ich denke während der Zeit auch mit
Tomarkin und Makay zusammenzutreffen. Mit Grüßen an alle verbleibe ich dein
treuer Bruder Donald.
Falls du die Adresse nicht mehr weißt, schicke mir die
eines ähnlichen Münchener InstitutesMit der Reformkleidung Gustav Jägers warben mehrere Wäschehändler in München, etwa Adolf Schlesinger (Neuhäuserstr. 30) mit der Spezialität: „Normal-Wäsche System Jäger“ [Adreßbuch von München für das Jahr 1891, Teil III, S. 196].. Gesetzt den Fall du bist bei Geld, so
wäre ich dir für die PensionWie in der vorangegangenen Korrespondenz bereits erwähnt, bat Donald Wedekind seinen Bruder aufgrund des schlechten Essens im Solothurner Kosthaus um eine regelmäßige monatliche Unterstützung für zusätzliche Verpflegung. sehr dankbar.